Im Clinch: der Prä­si­dent und seine Diener

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj in der Werchowna Rada
Foto: IMAGO /​ Besti­mage

Zwi­schen Prä­si­dent Wolo­dymyr Selen­skyj und den Abge­ord­ne­ten seiner Partei Diener des Volkes knirscht es – nicht erst seit dem Skandal um die Befug­nisse der Anti­kor­rup­ti­ons­or­gane. Anfang Oktober sollte ein vom Prä­si­den­ten initi­ier­tes Treffen mit der Frak­tion Einig­keit nach außen demons­trie­ren. Doch daraus wurde nichts. Drei­ein­halb Jahre nach dem rus­si­schen Groß­an­griff ist der ukrai­ni­sche Par­la­men­ta­ris­mus in der Krise.

Eigent­lich hätte Anfang Oktober ein für das innen­po­li­ti­sche Leben der Ukraine his­to­ri­sches Ereig­nis statt­fin­den sollen: Zum ersten Mal seit Kriegs­be­ginn hatten nicht die Abge­ord­ne­ten seiner Partei Prä­si­dent Wolo­dymyr Selen­skyj um ein Treffen gebeten, sondern umge­kehrt: Der Prä­si­dent bat seine Frak­tion zum Gespräch. Daraus wurde aller­dings: nichts. Auch Minis­ter­prä­si­den­tin Julija Swy­ry­denko hätte sich mit der Frak­tion von Diener des Volkes, die formell wei­ter­hin die abso­lute Mehr­heit im Par­la­ment besitzt, treffen sollen. Dieser Termin wurde immer­hin nur auf die Zeit nach Swy­ry­den­kos Reise in die USA verschoben.

Dass das Gespräch zwi­schen Prä­si­dent und Frak­tion nicht zustande kam, unter­streicht das kom­pli­zierte Ver­hält­nis, das beide ver­bin­det – und zwar nicht erst seit dem rus­si­schen Groß­an­griff 2022. Der ful­mi­nante Wahl­sieg der Diener des Volkes im Juli 2019 an sich war nicht voll­kom­men über­ra­schend gewesen. Doch dass die in aller Eile auf die Beine gestellte Partei, für die nur Kandidat:innen antre­ten durften, die nie zuvor in einem Par­la­ment geses­sen hatten, gleich die abso­lute Mehr­heit holte, war für die frisch geba­cke­nen Abge­ord­ne­ten ein Schock – wenn auch im posi­ti­ven Sinne. Noch unmit­tel­bar vor Bekannt­gabe der Wahl­er­geb­nisse hatten sie auf der Wahl­party über­legt, eine Koali­tion mit der natio­nal­li­be­ra­len Partei Stimme zu bilden, die ihre Liste nach ähn­li­chen Kri­te­rien zusam­men­ge­stellt hatte.

Die Gründe dafür, dass Prä­si­dent Selen­skyj und seine Partei nicht zuein­an­der kamen, sind viel­schich­tig. Der ukrai­ni­sche Prä­si­dent habe das Ver­hal­ten der Abge­ord­ne­ten in jüngs­ter Zeit ins­ge­samt für „destruk­tiv“ gehal­ten, so die Polit-Kom­men­ta­to­ren Roman Kravets und Roman Roma­niuk in ihrem Podcast für die Zeitung Ukra­jinska Prawda. So hat Selen­skyj etwa sein Veto gegen ein Gesetz ein­ge­legt, das Strafen für Minister:innen vorsah, die nicht erschei­nen, wenn sie das Par­la­ment zur Aus­spra­che einlädt.

Streit um die Unab­hän­gig­keit der Korruptionsbekämpfer

Gehörig ver­prellt hat viele Abge­ord­nete zudem die unan­ge­nehme Situa­tion rund um die geplante Ein­schrän­kung der Befug­nisse der Anti­kor­rup­ti­ons­or­gane, die nach Pro­tes­ten der Bevöl­ke­rung binnen kür­zes­ter Zeit wieder zurück­ge­nom­men werden musste. Die Ver­ant­wor­tung für das im In- und Ausland heftig kri­ti­sierte Gesetz schob das Prä­si­di­al­amt den Abge­ord­ne­ten zu und erregte damit – nicht ganz zu Unrecht – größten Unwillen.

Immer­hin hatte die Frak­tion Prä­si­dent Selen­skyj im Juli 2025, mitten in der Krise rund um das Thema Anti­kor­rup­ti­ons­be­hör­den, drin­gend um ein Gespräch gebeten und eine Erklä­rung für das geplante Vor­ge­hen ver­langt. Der Prä­si­dent jedoch ließ sich auf keine Dis­kus­sion ein. Und so waren die Abge­ord­ne­ten seiner Partei quasi gezwun­gen, zunächst – ohne aus­rei­chend infor­miert worden zu sein – für die Ein­schrän­kung der Unab­hän­gig­keit der Anti­kor­rup­ti­ons­or­gane zu stimmen und dies dann kurze Zeit später wieder zurückzunehmen.

Treffen platzt in letzter Minute

Die Folgen dieser Krise waren nach außen zunächst kaum sicht­bar. Mit Dmytro Kostiuk trat nur ein ein­zi­ger Abge­ord­ne­ter offi­zi­ell aus der Frak­tion aus. Als die Abge­ord­ne­ten Mitte Sep­tem­ber jedoch endlich mit dem Prä­si­den­ten reden durften, hielt sich das Inter­esse in Grenzen. Von 230 Parlamentarier:innen, die zur Frak­tion gehören, erschie­nen unter­schied­li­chen Ein­schät­zun­gen zufolge nur 120 bis 130 zum Gespräch mit dem Staatsoberhaupt.

Das geplante Treffen Anfang Oktober nun sollte nach außen die Einig­keit des Prä­si­den­ten und seiner Abge­ord­ne­ten demons­trie­ren. Doch nachdem es geplatzt ist, bleibt frag­lich, ob und wann es zu dieser Demons­tra­tion jemals kommt. Bei den Abstim­mun­gen in der Wer­chowna Rada, bei denen die Diener des Volkes allein seit Jahren nur auf 180 bis 190 Stimmen kommen und auf die Unter­stüt­zung anderer Frak­tio­nen und Gruppen ange­wie­sen sind, stimmt die Prä­si­den­ten­frak­tion inzwi­schen noch einmal mit etwa zehn Stimmen weniger ab als zuvor. Bisher kann Selen­skyj wich­tige Ent­schei­dun­gen damit wei­ter­hin durch­set­zen. Jedoch ist dies ein deut­li­ches Signal dafür, dass in der Zusam­men­ar­beit zwi­schen Prä­si­dent und Par­la­ment, beide seit 2019 in ihren Ämtern, vieles nicht stimmt.

Abso­lute Mehr­heit nur auf dem Papier

Einiges davon liegt in der für die Ukraine – eigent­lich einer semi­prä­si­den­ti­el­len Repu­blik mit tra­di­tio­nell starkem Par­la­ment – unge­wöhn­li­chen Situa­tion begrün­det, dass der Prä­si­dent in der Wer­chowna Rada auf eine eigene Ein-Par­teien-Mehr­heit zurück­grei­fen kann; anderes in der Ent­ste­hungs­ge­schichte der Partei. Die Idee, keine Ex-Abge­ord­ne­ten oder besser: gar keine nam­haf­ten Politiker:innen auf die Wahl­liste der Diener des Volkes zu setzen, war sei­ner­zeit dem Wunsch geschul­det, das poli­ti­sche System der Ukraine radikal zu erneu­ern. Her­aus­ge­kom­men ist dabei indes eine Samm­lung oft recht will­kür­lich zusam­men­ge­wür­fel­ter Figuren bis hin zu pro­fes­sio­nel­len Hoch­zeits­fo­to­gra­fen, die sich schnell in mehrere Klein­grup­pen inner­halb der Frak­tion auf­teilte. Die abso­lute Mehr­heit hatten die Diener des Volkes im Par­la­ment deshalb schon vor dem rus­si­schen Groß­an­griff eher auf dem Papier.

Sehr pro­mi­nent war und ist die Abge­ord­ne­ten­gruppe um den Ex-Par­la­ments­vor­sit­zen­den Dmytro Raz­um­kov, der 2019 als wich­tigs­ter Wahl­kampf­ma­na­ger Selen­skyjs agierte und dann als Nummer eins der Par­tei­liste auftrat. Sie zählt rund 20 Abge­ord­nete, von denen viele nur deshalb nicht formell aus der Frak­tion aus­tre­ten, weil sie als über die Par­tei­liste Gewählte dann ihr Mandat ver­lie­ren würden – anders als Dmytro Kostiuk, der als Direkt­kan­di­dat aus der Region Schy­to­myr in die Rada kam. Und allein die Gruppe um Raz­um­kov, die soge­nannte Rosumna Poli­tika („Kluge Politik“) ist groß genug, um die Frak­tion von Diener des Volkes de facto ihrer Mehr­heit zu berauben.

Neu­wah­len im Krieg unwahrscheinlich

Wegen der offen­sicht­li­chen Krise sechs­ein­halb Jahre nach der letzten Par­la­ments­wahl wird hinter vor­ge­hal­te­ner Hand viel über die Mög­lich­keit dis­ku­tiert, 2026 trotz des Krieges Wahlen abzu­hal­ten. „Alle haben ein­an­der satt“, zitiert Kor­re­spon­den­tin Yuliia Zabe­l­ina in Radio NV einen Poli­ti­ker aus Regie­rungs­krei­sen. Und dieser Ver­druss ist in den Macht­ka­bi­net­ten im Kyjiwer Regie­rungs­vier­tel deut­lich zu spüren. Gerüchte über eine mög­li­che Neuwahl sind nicht neu, sie kochen alle paar Monate hoch. Kein Wunder: Eine so lange Zeit ohne Wahlen hat die Ukraine kaum je erlebt – ein für eine dyna­mi­sche und leben­dige Demo­kra­tie ein höchst unge­wöhn­li­cher Zustand.

Doch ohne eine zumin­dest vor­über­ge­hende Waf­fen­ruhe ist sehr unwahr­schein­lich, dass wirk­lich Wahlen orga­ni­siert werden können. Wie soll der Staat die Sicher­heit der Wähler:innen gewähr­leis­ten, wenn eine bal­lis­ti­sche Rakete aus Russ­land selbst die Haupt­stadt treffen könnte, bevor über­haupt Luft­alarm aus­ge­löst werden kann? Der Mög­lich­keit, Wahlen auf elek­tro­ni­schem Weg aus­zu­tra­gen, steht die ukrai­ni­sche Bevöl­ke­rung wegen befürch­te­ter Mani­pu­la­tio­nen tra­di­tio­nell skep­tisch gegenüber.

Und noch eine weitere Frage ist mit Blick auf mög­li­che Par­la­ments­wah­len mitten im oder nach dem Krieg offen: Die Ukraine müsste ihre Wahl­ge­setz­ge­bung ändern und wohl einige Direkt­man­date strei­chen bezie­hungs­weise deren Ver­tei­lung anpas­sen. Schon seit der Anne­xion der Krim 2014 und dem Krieg im Osten des Landes bleibt in der Wer­chowna Rada eine erheb­li­che Zahl von Sitzen leer, weil Russ­land einige Wahl­be­zirke besetzt hat. Die Anzahl dieser Bezirke ist seit 2022 noch einmal deut­lich gestie­gen. Hier müsste eine Lösung her, damit das Par­la­ment wieder wie vor­ge­schrie­ben 450 Abge­ord­nete zählt – oder sogar völlig anders auf­ge­baut wird.

Portrait von Denis Trubetskoy

Denis Tru­bets­koy ist in Sewas­to­pol auf der Krim geboren und berich­tet als freier Jour­na­list aus Kyjiw.

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