Mehr Probleme, mehr Freiwillige
Dank der Arbeit der ukrainischen Freiwilligen funktioniert die Versorgung der Menschen und des Militärs in der Ukraine trotz vieler Hindernisse. Ein Bericht aus Odesa und Lwiw von Anna Romandash
„Es wird noch schlimmer werden. Früher hatten die Menschen ihre Auffangnetze, ihre Ersparnisse, aber die gehen jetzt schnell zur Neige“, sagt Dina Kazatsker. Dina ist Community Leader bei „Monster Corporation“, der größten Wohltätigkeitsstiftung in Odesa. Die Hafenstadt in der Südukraine mit mehr als einer Million Einwohnern wird noch immer gelegentlich von russischen Truppen vom Schwarzen Meer aus beschossen. Als die russische Invasion begann, befürchteten viele Einwohner, dass ihre Stadt zu einem der Hauptangriffsziele würde. Der Grund dafür ist die strategische Lage in der Nähe der Krim und die wichtige Rolle der Stadt für die ukrainische Wirtschaft.
„Der erste Monat war schrecklich, weil alles abgeriegelt war und viele Menschen die Stadt verließen“, erinnert sich Dina. „Es hat sich angefühlt, als wäre halb Odesa verschwunden. Wir haben ständig mit einem Großangriff vom Meer ausgerechnet.“ Als die russischen Pläne jedoch ins Stocken gerieten, kehrte auch das Leben nach Odesa zurück. „Die Menschen haben gesehen, dass die Russen nicht in der Lage waren, die Stadt einzunehmen“, sagt Dina, „die Geschäfte haben wieder geöffnet und man hat gemerkt, dass wieder eine gewisse Normalität herrschte.“
Doch das bedeutete auch mehr Arbeit für Dina und ihr Team.
Ihre Organisation wurde 2017 gegründet. Die Ursprünge gehen aber auf das Jahr 2014 zurück, als eine Gruppe von Freiwilligen begann, dem ukrainischen Militär zu helfen. Das Team besteht aus 11 Mitarbeitern und Dutzenden von Freiwilligen. In einem Jahr sammelt die Organisation bis zu 10 Millionen Euro, die für verschiedene soziale Zwecke verwendet werden. So wurden beispielsweise während der Pandemie mehr als fünftausend Menschen mit Sauerstoffmasken versorgt. „Wir haben vor allem viele ältere Menschen während der Pandemie unterstützt“, sagt Dina. „Doch jetzt ist die Zahl der Menschen, die Hilfe benötigen, viel größer.“
Mehr militärische Unterstützung
„Monster Corporation“ unterstützte das Militär auch schon vor der großangelegten Invasion. Jetzt ist der Bedarf noch deutlich höher – es werden Spenden für medizinische Ausrüstung, für Waffen, Fahrzeuge, Werkzeuge und Schutzausrüstung gesammelt. Die Regierung könne nicht für alle diese Ausgaben aufkommen, weil es zu viele davon gebe, erklärt Dina. „Wir erhalten ständig schriftliche Anfragen von verschiedenen Militäreinheiten, die um jede Art von Unterstützung bitten. Wir verstehen, dass der Staat sich nicht um alles kümmern kann, besonders in Zeiten wie diesen. Also versuchen wir zu tun, was wir können.“
Es gibt jedoch noch ein weiteres Problem.
„Viele Menschen haben ihre Arbeit und ihre Einkommensquellen verloren. Die Häfen können nicht betrieben werden, Logistikketten wurden unterbrochen und Unternehmen sind pleite gegangen“, sagt Dina. „Viele Einheimische leben also von ihrem letzten Geld.“ Positiv sei jedoch, dass die Zahl der Freiwilligen exponentiell gestiegen ist. Die Menschen schließen sich ihrer Organisation und vielen anderen in Odesa an, um alle Arten von Unterstützung zu leisten. „Wir haben mehr Probleme, aber wir haben auch mehr Menschen, die bereit sind zu helfen“, sagt Dina lächelnd.
„Die Freiwilligen sind sehr motiviert.“
Die Freiwilligenbewegung in der Ukraine hat seit dem Beginn der großangelegten russischen Invasion stark zugenommen. 38 Prozent der Ukrainerinnen und Ukrainer sind als Freiwillige in verschiedenen Nichtregierungsorganisationen, sozialen Bewegungen und Wohltätigkeitsorganisationen aktiv. Freiwillige füllen oft die Lücken, die von der Regierung nicht geschlossen werden können – sie arbeiten unabhängig vom Staat.
Die Freiwilligenbewegung hat seit 2014 eine rasante Entwicklung erlebt. Damals begannen die Ukrainer, sich in Gemeinden und Freiwilligengruppen zu organisieren, um ukrainischen Soldaten zu helfen, die in den Donbas geschickt wurden. Weil die ukrainische Armee zu diesem Zeitpunkt extrem unterausgestattet war, leisteten die Freiwilligen den neuen Rekruten entscheidende Hilfe, indem sie Geld für Ausstattung sammelten. So gelang es den Ukrainern zuletzt auch, in weniger als drei Tagen rund 16 Millionen Euro für vier Bayraktar-Drohnen für die ukrainische Armee zu sammeln – und das nur dank einer digitalen Freiwilligeninitiative, die Spenden sammelte.
Alle haben zu kämpfen
In Lwiw, im Westen der Ukraine, ist die Situation ähnlich wie in Odesa. Die Stadt, die nur eine Autostunde von der polnischen Grenze entfernt liegt, ist ein wichtiges kulturelles und wirtschaftliches Zentrum des Landes. Auch Lwiw wurde Ziel russischer Raketen. Die Russen zerstörten einige Infrastruktureinrichtungen und zivile Gebäude und töteten Einheimische. Die Stadt hat die meisten Binnenflüchtlinge aufgenommen. Dort leben etwa 700.000 Menschen und seit Kriegsbeginn kamen rund 200.000 weitere Ukrainerinnen und Ukrainer. Das hat zu einer großen Wohnungskrise geführt. Beamte und Freiwillige kämpfen darum, alle Neuankömmlinge unterzubringen.
Nicht alle Binnenvertriebenen können sich das Leben in Lwiw leisten, auch nicht mit staatlicher Hilfe. „Wir versuchen, den Binnenflüchtlingen zu helfen und liefern ihnen Lebensmittel, wenn wir genug habe“, sagt Anna Didyk, Freiwillige bei„Tarilk“ (auf Deutsch „Teller“). Ihre Organisation ist eine in Lwiw ansässige Lebensmittelbank, die nicht verkaufte Lebensmittel aus den Supermärkten an Bedürftige verteilt. Vor dem Krieg erhielt„Tarilk“ einige Tonnen Lebensmittel pro Monat, um sie an die Bevölkerung zu verteilen. Im Jahr 2021 wuchs die Organisation auf 50 ehrenamtliche Mitarbeiter an, rettete 13.000 Tonnen Produkte und registrierte fast 3.000 Bedürftige, an die sie regelmäßig Lebensmittel verteilte.
Im selben Jahr eröffnete die Organisation einen eigenen Laden, in dem die Menschen kostenlos Lebensmittel erwerben können. Aufgrund des Krieges gibt es weniger Lebensmittel und mehr Bedürftige. „Im Moment sind wir abhängig von der Verfügbarkeit von Lebensmitteln. Wenn wir genug Produkte bekommen, geben wir sie aus und laden täglich etwa 30 Leute in unseren Laden ein“, sagt Anna. „Wenn wir aber nicht genug Lebensmittel haben, um ein würdiges Lebensmittelset zusammenzustellen, dann schicken wir die Lebensmittel, die wir bekommen haben, an Wohltätigkeitsorganisationen, die bereit sind, jede Art von Hilfe von uns anzunehmen.“
Mangel an allem
Diese Wohltätigkeitsorganisationen helfen, wie Anna erklärt, jungen Menschen und kinderreichen Familien. Darüber hinaus schickt „Tarilka“ Lebensmittel, die länger gelagert werden können, an Menschen an der Front und an das Militär. Dabei stützen sie sich auf Partnerschaften mit lokalen NGOs und Freiwilligen, die in den Krisengebieten tätig sind. So konnte „Tarilka“ beispielsweise in der Ostukraine fast 2 Millionen Brote und mehr als eine Million Konserven verteilen.
Die Schwierigkeit liegt in der Logistik und in der Tatsache, dass in der Ukraine derzeit ein Mangel an allem herrscht. Da die Produktion in vielen Regionen zum Stillstand gekommen ist und Arbeitslosigkeit und Armut zunehmen, haben die Menschen immer weniger Mittel, um sich zu versorgen.
Nach den Prognosen des ukrainischen Finanzministeriums wird die ukrainische Wirtschaft aufgrund der russischen Invasion in diesem Jahr um fast 50 Prozent schrumpfen. Viele Unternehmen kürzen die Gehälter ihrer Mitarbeiter, weil die Umsätze zurückgehen und andere Schwierigkeiten auftreten. Da die Ukraine aufgrund der Zerstörung vieler Städte oft nicht in der Lage ist, ihre Waren zu exportieren und ihren Produktionsbedarf zu decken, wird die Wirtschaftskrise wahrscheinlich immer mehr Ukrainer betreffen. Ohne die Freiwilligen vor Ort wäre die Not aber noch viel größer.
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