Mehr Pro­bleme, mehr Freiwillige

Foto: Dmytro Smo­li­y­enko /​ Imago Images

Dank der Arbeit der ukrai­ni­schen Frei­wil­li­gen funk­tio­niert die Ver­sor­gung der Men­schen und des Mili­tärs in der Ukraine trotz vieler Hin­der­nisse. Ein Bericht aus Odesa und Lwiw von Anna Romandash

„Es wird noch schlim­mer werden. Früher hatten die Men­schen ihre Auf­fang­netze, ihre Erspar­nisse, aber die gehen jetzt schnell zur Neige“, sagt Dina Kazats­ker. Dina ist Com­mu­nity Leader bei „Monster Cor­po­ra­tion“, der größten Wohl­tä­tig­keits­stif­tung in Odesa. Die Hafen­stadt in der Süd­ukraine mit mehr als einer Million Ein­woh­nern wird noch immer gele­gent­lich von rus­si­schen Truppen vom Schwar­zen Meer aus beschos­sen. Als die rus­si­sche Inva­sion begann, befürch­te­ten viele Ein­woh­ner, dass ihre Stadt zu einem der Haupt­an­griffs­ziele würde. Der Grund dafür ist die stra­te­gi­sche Lage in der Nähe der Krim und die wich­tige Rolle der Stadt für die ukrai­ni­sche Wirtschaft.

„Der erste Monat war schreck­lich, weil alles abge­rie­gelt war und viele Men­schen die Stadt ver­lie­ßen“, erin­nert sich Dina. „Es hat sich ange­fühlt, als wäre halb Odesa ver­schwun­den. Wir haben ständig mit einem Groß­an­griff vom Meer aus­ge­rech­net.“ Als die rus­si­schen Pläne jedoch ins Stocken gerie­ten, kehrte auch das Leben nach Odesa zurück. „Die Men­schen haben gesehen, dass die Russen nicht in der Lage waren, die Stadt ein­zu­neh­men“, sagt Dina, „die Geschäfte haben wieder geöff­net und man hat gemerkt, dass wieder eine gewisse Nor­ma­li­tät herrschte.“

Doch das bedeu­tete auch mehr Arbeit für Dina und ihr Team.

Ihre Orga­ni­sa­tion wurde 2017 gegrün­det. Die Ursprünge gehen aber auf das Jahr 2014 zurück, als eine Gruppe von Frei­wil­li­gen begann, dem ukrai­ni­schen Militär zu helfen. Das Team besteht aus 11 Mit­ar­bei­tern und Dut­zen­den von Frei­wil­li­gen. In einem Jahr sammelt die Orga­ni­sa­tion bis zu 10 Mil­lio­nen Euro, die für ver­schie­dene soziale Zwecke ver­wen­det werden. So wurden bei­spiels­weise während der Pan­de­mie mehr als fünf­tau­send Men­schen mit Sau­er­stoff­mas­ken ver­sorgt. „Wir haben vor allem viele ältere Men­schen während der Pan­de­mie unter­stützt“, sagt Dina. „Doch jetzt ist die Zahl der Men­schen, die Hilfe benö­ti­gen, viel größer.“

Mehr mili­tä­ri­sche Unterstützung

„Monster Cor­po­ra­tion“ unter­stützte das Militär auch schon vor der groß­an­ge­leg­ten Inva­sion. Jetzt ist der Bedarf noch deut­lich höher – es werden Spenden für medi­zi­ni­sche Aus­rüs­tung, für Waffen, Fahr­zeuge, Werk­zeuge und Schutz­aus­rüs­tung gesam­melt. Die Regie­rung könne nicht für alle diese Aus­ga­ben auf­kom­men, weil es zu viele davon gebe, erklärt Dina. „Wir erhal­ten ständig schrift­li­che Anfra­gen von ver­schie­de­nen Mili­tär­ein­hei­ten, die um jede Art von Unter­stüt­zung bitten. Wir ver­ste­hen, dass der Staat sich nicht um alles kümmern kann, beson­ders in Zeiten wie diesen. Also ver­su­chen wir zu tun, was wir können.“

Es gibt jedoch noch ein wei­te­res Problem.

„Viele Men­schen haben ihre Arbeit und ihre Ein­kom­mens­quel­len ver­lo­ren. Die Häfen können nicht betrie­ben werden, Logis­tik­ket­ten wurden unter­bro­chen und Unter­neh­men sind pleite gegan­gen“, sagt Dina. „Viele Ein­hei­mi­sche leben also von ihrem letzten Geld.“ Positiv sei jedoch, dass die Zahl der Frei­wil­li­gen expo­nen­ti­ell gestie­gen ist. Die Men­schen schlie­ßen sich ihrer Orga­ni­sa­tion und vielen anderen in Odesa an, um alle Arten von Unter­stüt­zung zu leisten. „Wir haben mehr Pro­bleme, aber wir haben auch mehr Men­schen, die bereit sind zu helfen“, sagt Dina lächelnd.

„Die Frei­wil­li­gen sind sehr motiviert.“ 

Die Frei­wil­li­gen­be­we­gung in der Ukraine hat seit dem Beginn der groß­an­ge­leg­ten rus­si­schen Inva­sion stark zuge­nom­men. 38 Prozent der Ukrai­ne­rin­nen und Ukrai­ner sind als Frei­wil­lige in ver­schie­de­nen Nicht­re­gie­rungs­or­ga­ni­sa­tio­nen, sozia­len Bewe­gun­gen und Wohl­tä­tig­keits­or­ga­ni­sa­tio­nen aktiv. Frei­wil­lige füllen oft die Lücken, die von der Regie­rung nicht geschlos­sen werden können – sie arbei­ten unab­hän­gig vom Staat.

Die Frei­wil­li­gen­be­we­gung hat seit 2014 eine rasante Ent­wick­lung erlebt. Damals began­nen die Ukrai­ner, sich in Gemein­den und Frei­wil­li­gen­grup­pen zu orga­ni­sie­ren, um ukrai­ni­schen Sol­da­ten zu helfen, die in den Donbas geschickt wurden. Weil die ukrai­ni­sche Armee zu diesem Zeit­punkt extrem unter­aus­ge­stat­tet war, leis­te­ten die Frei­wil­li­gen den neuen Rekru­ten ent­schei­dende Hilfe, indem sie Geld für Aus­stat­tung sam­mel­ten. So gelang es den Ukrai­nern zuletzt auch, in weniger als drei Tagen rund 16 Mil­lio­nen Euro für vier Bay­raktar-Drohnen für die ukrai­ni­sche Armee zu sammeln – und das nur dank einer digi­ta­len Frei­wil­li­gen­in­itia­tive, die Spenden sammelte.

Alle haben zu kämpfen

In Lwiw, im Westen der Ukraine, ist die Situa­tion ähnlich wie in Odesa. Die Stadt, die nur eine Auto­stunde von der pol­ni­schen Grenze ent­fernt liegt, ist ein wich­ti­ges kul­tu­rel­les und wirt­schaft­li­ches Zentrum des Landes. Auch Lwiw wurde Ziel rus­si­scher Raketen. Die Russen zer­stör­ten einige Infra­struk­tur­ein­rich­tun­gen und zivile Gebäude und töteten Ein­hei­mi­sche. Die Stadt hat die meisten Bin­nen­flücht­linge auf­ge­nom­men. Dort leben etwa 700.000 Men­schen und seit Kriegs­be­ginn kamen rund 200.000 weitere Ukrai­ne­rin­nen und Ukrai­ner. Das hat zu einer großen Woh­nungs­krise geführt. Beamte und Frei­wil­lige kämpfen darum, alle Neu­an­kömm­linge unterzubringen.

Nicht alle Bin­nen­ver­trie­be­nen können sich das Leben in Lwiw leisten, auch nicht mit staat­li­cher Hilfe. „Wir ver­su­chen, den Bin­nen­flücht­lin­gen zu helfen und liefern ihnen Lebens­mit­tel, wenn wir genug habe“, sagt Anna Didyk, Frei­wil­lige bei„Tarilk“ (auf Deutsch „Teller“). Ihre Orga­ni­sa­tion ist eine in Lwiw ansäs­sige Lebens­mit­tel­bank, die nicht ver­kaufte Lebens­mit­tel aus den Super­märk­ten an Bedürf­tige ver­teilt. Vor dem Krieg erhielt„Tarilk“ einige Tonnen Lebens­mit­tel pro Monat, um sie an die Bevöl­ke­rung zu ver­tei­len. Im Jahr 2021 wuchs die Orga­ni­sa­tion auf 50 ehren­amt­li­che Mit­ar­bei­ter an, rettete 13.000 Tonnen Pro­dukte und regis­trierte fast 3.000 Bedürf­tige, an die sie regel­mä­ßig Lebens­mit­tel verteilte.

Im selben Jahr eröff­nete die Orga­ni­sa­tion einen eigenen Laden, in dem die Men­schen kos­ten­los Lebens­mit­tel erwer­ben können. Auf­grund des Krieges gibt es weniger Lebens­mit­tel und mehr Bedürf­tige. „Im Moment sind wir abhän­gig von der Ver­füg­bar­keit von Lebens­mit­teln. Wenn wir genug Pro­dukte bekom­men, geben wir sie aus und laden täglich etwa 30 Leute in unseren Laden ein“, sagt Anna. „Wenn wir aber nicht genug Lebens­mit­tel haben, um ein wür­di­ges Lebens­mit­tel­set zusam­men­zu­stel­len, dann schi­cken wir die Lebens­mit­tel, die wir bekom­men haben, an Wohl­tä­tig­keits­or­ga­ni­sa­tio­nen, die bereit sind, jede Art von Hilfe von uns anzunehmen.“

Mangel an allem

Diese Wohl­tä­tig­keits­or­ga­ni­sa­tio­nen helfen, wie Anna erklärt, jungen Men­schen und kin­der­rei­chen Fami­lien. Darüber hinaus schickt „Tarilka“ Lebens­mit­tel, die länger gela­gert werden können, an Men­schen an der Front und an das Militär. Dabei stützen sie sich auf Part­ner­schaf­ten mit lokalen NGOs und Frei­wil­li­gen, die in den Kri­sen­ge­bie­ten tätig sind. So konnte „Tarilka“ bei­spiels­weise in der Ost­ukraine fast 2 Mil­lio­nen Brote und mehr als eine Million Kon­ser­ven verteilen.

Die Schwie­rig­keit liegt in der Logis­tik und in der Tat­sa­che, dass in der Ukraine derzeit ein Mangel an allem herrscht. Da die Pro­duk­tion in vielen Regio­nen zum Still­stand gekom­men ist und Arbeits­lo­sig­keit und Armut zuneh­men, haben die Men­schen immer weniger Mittel, um sich zu versorgen.

Nach den Pro­gno­sen des ukrai­ni­schen Finanz­mi­nis­te­ri­ums wird die ukrai­ni­sche Wirt­schaft auf­grund der rus­si­schen Inva­sion in diesem Jahr um fast 50 Prozent schrump­fen. Viele Unter­neh­men kürzen die Gehäl­ter ihrer Mit­ar­bei­ter, weil die Umsätze zurück­ge­hen und andere Schwie­rig­kei­ten auf­tre­ten. Da die Ukraine auf­grund der Zer­stö­rung vieler Städte oft nicht in der Lage ist, ihre Waren zu expor­tie­ren und ihren Pro­duk­ti­ons­be­darf zu decken, wird die Wirt­schafts­krise wahr­schein­lich immer mehr Ukrai­ner betref­fen. Ohne die Frei­wil­li­gen vor Ort wäre die Not aber noch viel größer.

Textende

Geför­dert durch

Portrait Anna Romandash

Anna Roman­dash ist Jour­na­lis­tin aus der Ukraine. 

Ver­wandte Themen

News­let­ter bestellen

Tragen Sie sich in unseren News­let­ter ein und bleiben Sie auf dem Laufenden.

Mit unseren Daten­schutz­be­stim­mun­gen erklä­ren Sie sich einverstanden.