Europas Sicher­heit neu denken. Warum die Ukraine ein Partner sein muss – nicht bloß ein Schlachtfeld

Jens Stoltenberg, Wolo­dymyr Selen­skyj
Foto: IMAGO /​ ZUMA Press Wire

Da der Ein­fluss Russ­lands wächst und die Einheit der NATO unge­wiss erscheint, müssen die euro­päi­schen Länder eine gemein­same Stra­te­gie ent­wi­ckeln und die Ukraine als wich­ti­gen Sicher­heits­part­ner anerkennen.

Jetzt, da der Krieg in der Ukraine ins vierte Jahr geht, offen­bart ein Rück­blick eine unbe­queme Wahr­heit. Vor zwei Jahren sahen Beob­ach­ter Russ­lands stra­te­gi­sche Nie­der­lage ange­sichts der Tap­fer­keit und des Ein­falls­reich­tums der Ukraine voraus. In diesem Jahr haben sich die Debat­ten der Exper­ten auf die zuneh­mende Ein­mi­schung Russ­lands in Europa ver­la­gert, ein­schließ­lich seiner Atten­tats­ver­su­che, seiner Infra­struk­tur­sa­bo­tage in der Ostsee und seiner Ein­mi­schung in die rumä­ni­schen Wahlen. Nach der Rede des US-Vize­prä­si­den­ten JD Vance in München äußer­ten einige Exper­ten und Poli­ti­ker Zweifel an der Stärke der trans­at­lan­ti­schen Bezie­hun­gen. Europa muss seine Sicher­heits­po­li­tik über­den­ken, das ist inzwi­schen klar.

Rote Linien ziehen

Viele gemüt­li­che Jahr­zehnte unter dem Sicher­heits­schirm der USA schei­nen Europas Bewer­tung der Bedro­hungs­lage ver­zerrt zu haben. Wenn es um die Sicher­heit des Kon­ti­nents geht, haben die euro­päi­schen Staats- und Regie­rungs­chefs das Thema immer wieder als „Las­ten­ver­tei­lung“ bezeich­net. Diese For­mu­lie­rung scheint unan­ge­mes­sen, denn Sicher­heit ist keine Last. Sie ist eine Not­wen­dig­keit, die allem anderen vor­aus­geht, ein­schließ­lich Demo­kra­tie und Wohl­stand. Sie ist nicht kos­ten­los, aber sie ist viel bil­li­ger als ein dau­er­haf­ter Mangel an Sicherheit.

Ein wei­te­rer Punkt, der Anlass zur Sorge gibt, ist die Haltung Europas gegen­über Russ­land. Die Dis­kus­sio­nen auf dem Sicher­heits­fo­rum 2025 in Vilnius zeigen, dass die Idee, eine rote Linie zu ziehen und mit Gewalt zu reagie­ren, wenn Russ­land sie über­schrei­tet, zumin­dest von den Rednern des Forums, alle­samt Insider der euro­päi­schen Politik, wohl immer noch als umstrit­ten ange­se­hen wird. Dieses Zaudern hat zu der Situa­tion bei­getra­gen, in der sich Europa heute befin­det. Ein Panel in Vilnius, das sich mit der Frage beschäf­tigte, welche stra­te­gi­schen Her­aus­for­de­run­gen Europa für Russ­land schaf­fen könnte, kon­zen­trierte sich auf die reine Abschre­ckung. Aus meiner Sicht hätte man zumin­dest über Infor­ma­ti­ons­ope­ra­tio­nen inner­halb Russ­lands spre­chen sollen.

Die Frage nach der Rolle der USA und der NATO in der euro­päi­schen Sicher­heit bleibt zentral. Es scheint klar zu sein, dass sich die USA von ihrer tra­di­tio­nel­len Rolle im Bündnis und auf dem euro­päi­schen Kon­ti­nent weg­be­we­gen. Der Trend ist nicht neu, er begann mit Prä­si­dent Obamas „Schwenk nach Asien“ und setzte sich fort mit Prä­si­dent Trumps For­de­run­gen nach einer Erhö­hung der euro­päi­schen Ver­tei­di­gungs­aus­ga­ben und seiner Ent­schei­dung im Jahr 2020, die US-Truppen aus Deutsch­land abzu­zie­hen. Unter Prä­si­dent Biden mit seinem „America is back!“-Ansatz schien er sich umzu­keh­ren, doch unter Trump 2.0 ist der ame­ri­ka­ni­sche Iso­la­tio­nis­mus wieder mit voller Wucht zurück. Der Trend, dass die USA ihre Ver­tei­di­gungs­an­stren­gun­gen zuneh­mend auf den pazi­fi­schen Raum aus­rich­ten, hält nun schon seit mehr als einem Jahr­zehnt an und wird sich ver­mut­lich auch nach der Trump-Regie­rung nicht umkeh­ren. Europa braucht eine neue Vision von seiner Sicher­heit mit weniger US- und mehr ukrai­ni­scher Beteiligung.

Die größte Armee des Kontinents

Die Ukraine hat bereits einen Beitrag zur euro­päi­schen Sicher­heit geleis­tet, indem sie der rus­si­schen Inva­sion drei Jahre lang Wider­stand geleis­tet hat. Die Ukraine ist groß, sie ist resi­li­ent, und sie ist nicht in drei Tagen gefal­len, wie die meisten west­li­chen Beob­ach­ter vor­her­ge­sagt hatten. Dennoch hat es den Anschein, dass Europa die Ukraine immer noch als etwas Aus­wär­ti­ges betrach­tet, das nichts mit seiner gemein­sa­men Sache zu tun hat. Die euro­päi­schen Länder kon­zen­trie­ren sich in erster Linie auf ihre eigenen Abschre­ckungs­be­mü­hun­gen inner­halb der NATO, während die Ukraine gerade einmal genü­gend Unter­stüt­zung erhält, um weiterzukämpfen.

Die Ukraine stellt heute die größte Armee des Kon­ti­nents. Das wird wahr­schein­lich auch nach dem Ende des Kon­flikts so bleiben. Ebenso hat sie eine Vision, wie sie zur euro­päi­schen Sicher­heit bei­tra­gen könnte. Prä­si­dent Selen­skyj schlug beides vor: die Sta­tio­nie­rung ukrai­ni­scher Truppen in Europa nach dem Ende des Krieges, um einige US-Streit­kräfte zu erset­zen, und die Ukraine als Kern, um den die euro­päi­schen Länder eine gemein­same Armee bilden könnten. Selen­skyj sagte auch, dass die Ukraine anderen Ländern bei­brin­gen könne, wie man einen moder­nen Land­krieg führt, da sie das einzige Land in Europa ist, das dies­be­züg­lich über frische Erfah­run­gen verfügt.

Die Ukraine als Partner, nicht als Hilfsempfänger

Die ukrai­ni­sche Rüs­tungs­in­dus­trie ist hoch­in­no­va­tiv und ent­wi­ckelt sich schnell, sie ist auch offen für eine Zusam­men­ar­beit mit west­li­chen Part­nern. Die ukrai­ni­sche Indus­trie bevor­zugt das soge­nannte „däni­sche Modell“, bei dem Geber­län­der in der Ukraine pro­du­zierte Waffen zur Ver­wen­dung durch die ukrai­ni­sche Armee kaufen. Dieses Modell könnte sich jedoch als nicht trag­fä­hig erwei­sen, da die euro­päi­schen Wähler sich dagegen sträu­ben könnten, Waffen von außer­halb der EU zu kaufen, ohne dass dadurch Arbeits­plätze im eigenen Land geschaf­fen werden. Sowohl die Ukraine als auch Europa müssen die in der EU-Stra­te­gie für die Ver­tei­di­gungs­in­dus­trie vor­ge­se­hene Zusam­men­ar­beit inten­si­vie­ren. Die Ukraine muss ihre Export­po­li­tik für über­schüs­sige Waffen, die ihre Armee nicht selbst benö­tigt, opti­mie­ren und klar kom­mu­ni­zie­ren. Die euro­päi­schen Regie­run­gen könnten Joint Ven­tures mit ukrai­ni­schen Unter­neh­men finan­zie­ren, die einen Teil ihrer Pro­duk­tion in die Ukraine ver­la­gern würden.

Die Ukraine sollte schritt­weise in die von Deutsch­land im Jahr 2022 initi­ierte Euro­pean Sky Shield Initia­tive (ESSI) inte­griert werden. Ange­sichts der unglück­li­chen Nähe der Ukraine zu Russ­land würde die Ein­be­zie­hung der Ukraine in die euro­päi­schen Luft­ver­tei­di­gungs­pläne die Wahr­schein­lich­keit ver­rin­gern, dass rus­si­sche Raketen Europa errei­chen. Es stimmt, dass eine rea­lis­ti­sche Dis­kus­sion über einen Sky Shield für die Ukraine  gerade erst begon­nen hat, aber es ist höchste Zeit, darüber zu dis­ku­tie­ren, ob eine Inte­gra­tion der Ukraine in den euro­päi­schen Luft­ver­tei­di­gungs­rah­men prin­zi­pi­ell möglich wäre. In dieser Dis­kus­sion muss die Ukraine als Partner auf­tre­ten, nicht als abhän­gi­ges Gebilde oder als reiner Hilfsempfänger.

Bedarf nach Führung

Der Wider­stand der Ukraine gegen die rus­si­sche Aggres­sion hat gezeigt, wie Einig­keit und rasches Handeln den Angriff selbst eines mili­tä­risch stär­ke­ren Gegners abweh­ren können. Als eine auf Konsens basie­rende Orga­ni­sa­tion ist die NATO für eine solche Füh­rungs­rolle leider nicht gut geeig­net. Die gegen­wär­tige Krise erfor­dert eine pro­ak­tive Politik. Groß­bri­tan­nien und Frank­reich haben bereits damit begon­nen, eine Koali­tion der Wil­li­gen zu bilden, um ein mög­li­ches Frie­dens­ab­kom­men zwi­schen Russ­land und der Ukraine zu errei­chen. Sie müssen jedoch bereit sein, auch ohne Russ­lands Zustim­mung ein­zu­grei­fen, da der Krieg auf dem Hoheits­ge­biet der Ukraine statt­fin­det. Die Koali­tion sollte genü­gend Mit­glie­der anzie­hen, um Russ­land dau­er­haft abzu­schre­cken, und sich auf ein klares Mandat einigen, um das rus­si­sche Militär im Falle einer erneu­ten Aggres­sion entgegenzutreten.

Außer­dem ist zu beden­ken: Selbst wenn die Ver­hand­lun­gen mit Russ­land irgend­wann vor­an­kom­men sollten, muss Europa weiter an seiner Wider­stands­fä­hig­keit arbei­ten. Auf eine fried­li­che Lösung zu hoffen ist zweck­los, wenn Russ­land ein auto­ri­tä­rer Staat bleibt. Solche Regime neigen dazu, innere Span­nun­gen durch Aggres­sion nach außen zu lösen. Europa muss erken­nen, dass es nicht einfach an der alten Nor­ma­li­tät fest­hal­ten kann. Ange­sichts der ver­än­der­ten stra­te­gi­schen Aus­rich­tung der USA ist es für Europa an der Zeit, mit dem Zaudern aufzuhören.

 

Redak­tion: Yeli­za­veta Landenberger

Julia Kazdobina

Julia Kaz­do­bina ist Senior Fellow beim Foreign Policy Council „Ukrai­nian Prism“ in Kyjiw und Lei­te­rin der Ukrai­nian Foun­da­tion for Secu­rity Studies.

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