Die Spitze des Eisbergs

Amtsniederlegungen und Sanktionen gegen vermeintliche Beteiligte ändern nichts daran: Es ist einer der größten Korruptionsskandale in der Geschichte der Ukraine – und möglicherweise ist das erst die Spitze des Eisbergs. Präsident Selensyj steht so stark unter Druck wie nie zuvor. Und doch ist, was passiert, im positiven Sinne bemerkenswert.
Seit Februar 2022 hat es im politischen Kyjiw keine Woche gegeben, die so chaotisch verlief wie die vergangene. Man muss schon tief in die wilden 1990er Jahre zurückblicken, um auf einen Korruptionsskandal zu stoßen, der auch nur annähernd so große Sprengkraft hatte, wie die jetzt veröffentlichten Ergebnisse monatelanger Ermittlungen des Nationalen Antikorruptionsbüros (NABU) unter dem Decknamen „Midas“. Eine so schwere innenpolitische Krise hat der ukrainische Präsident bisher nicht durchgemacht – und zwar nicht erst seit dem russischen Großangriff 2022, sondern seit Beginn seiner Amtszeit 2019.
Dabei ist für Wolodymyr Selenskyj nicht nur ein Problem, dass der ihm nahestehende Geschäftsmann Tymur Minditsch und vier derzeitige sowie ehemalige Minister:innen in die Machenschaften verwickelt sein sollen. Es ist auch davon auszugehen, dass die bisherigen Veröffentlichungen nur die Spitze des Eisbergs sind. Denn das Nationale Antikorruptionsbüro, das die belastenden Audioaufnahmen veröffentlicht hat, deutet an, dass neben dem in der aktuellen Lage besonders sensiblen Energiesektor auch die Rüstungsindustrie betroffen sein könnte.
Strippenzieher im Hintergrund
Was bisher bekannt wurde, ist allerdings schon mehr als erstaunlich. Dass der ukrainische Energiesektor – Krieg hin oder her – von Korruption durchsetzt ist, überrascht grundsätzlich niemanden. Dass im Hintergrund Schattenfiguren wie Tymur Minditsch, ein Mann ohne Amt und offizielle Befugnisse Fäden in der Hand halten, ist ebenfalls wenig verwunderlich. Was jedoch überrascht, ist das Ausmaß der Korruption allein bei dem strategisch wichtigen Staatsunternehmen Enerhoatom, das die gesamte Kernenergie der Ukraine kontrolliert.
Die Lieferanten von Enerhoatom mussten Schmiergelder in Höhe von unglaublichen zehn bis 15 Prozent des jeweiligen Vertragswerts zahlen, um Aufträge nicht zu verlieren und ihnen legal zustehende Beträge zu erhalten. Diese Praxis, meist als „Schlagbaum“ bezeichnet, ist nicht nur aus der Ukraine bekannt, sondern aus vielen anderen Ländern, die einst zur Sowjetunion gehörten. In der ukrainischen Baubranche sind solche „Schlagbäume“ bedauerlicherweise bis heute gang und gäbe.
Allerdings liegen die geforderten Summen üblicherweise im niedrigen einstelligen Bereich. Anders wäre es für Auftragnehmer auch schwer bis unmöglich, auf dem freien Markt überhaupt Gewinn zu machen. Dass in diesem Fall offenbar zehn bis 15 Prozent verlangt wurden, hat viele in der Ukraine erstaunt – umso mehr, als es unter anderem um den Bau von Schutzräumen für Umspannwerke von Atomkraftwerken ging, die von den massiven russischen Luftangriffen besonders betroffen sind.
Spur ins russische Geheimdienstmilieu
Eine weitere erstaunliche Erkenntnis aus den bisher vom NABU veröffentlichten „Minditsch Bändern“: Das von Minditsch und seinen Leuten eingenommene Geld soll in Büroräumen gewaschen worden sein, die der Familie des ehemaligen ukrainischen Parlamentsabgeordneten Andrii Derkach gehören. Der hatte seit den frühen 90er Jahren zwar großen Einfluss auf den Energiesektor des Landes – und explizit auch auf Enerhoatom. Allerdings ist es nicht erst seit seiner Flucht nach Russland ein offenes Geheimnis, dass Derkach, heute Mitglied im russischen Föderationsrat, im Auftrag des russischen Inlandsgeheimdienstes FSB in der Ukraine unterwegs war.
In den abgehörten Gesprächen ist von zumindest einem mutmaßlichen Geldtransfer nach Moskau die Rede. Außerdem wird die Postenverteilung bei der jüngsten Regierungsumbildung im Juli diskutiert. Und: Nicht zuletzt geht es in den veröffentlichten Mitschnitten auch darum, aus der „schwarzen Kasse“ die nötige Summe für die Kaution von Ex-Vizepremier Oleksandr Tschernyschow aufzubringen, gegen den bereits ein Verfahren wegen Korruption läuft und der ebenfalls zur kriminellen Gruppe um Minditsch zählen soll.
Kaum bekannt, aber nah am Präsidenten
Doch wer ist dieser Tymur Minditsch, der in den Mitschnitten unter dem Decknamen „Karlson“ auftritt? Viel ist über den Werdegang des aus Dnipro stammenden Unternehmers nicht bekannt. Sicher ist, dass er lange in der ukrainischen Medienbranche tätig war und dem in Ungnade gefallenen ehemaligen Förderer Selenskyjs, dem Oligarchen Ihor Kolomojskyj nahestand, der seit zwei Jahren in Untersuchungshaft sitzt. Minditsch war an Kwartal 95 beteiligt, der ehemaligen Fernsehproduktionsfirma Selenskyjs, deren Sendungen über Kolomojskyjs einstiges Medienimperium rund um den TV-Sender 1+1 ausgestrahlt wurden. Auch heute sollen Minditsch noch 50 Prozent von Kwartal 95 gehören.
Minditsch, der neben dem ukrainischen auch einen israelischen Pass besitzt und kurz vor der Veröffentlichung der NABU-Mitschnitte ins Ausland floh, soll im Präsidentenwahlkampf 2019 im Hintergrund aktiv gewesen sein. Außerdem wohnte er im gleichen Gebäude im Kyjiwer Regierungsviertel, in dem Wolodymyr Selenskyj bis zum 24. Februar 2022 wohnte. In diesem Gebäude besitzt Minditsch mehrere Wohnungen – und die wurden von NABU-Mitarbeiter:innen monatelang ganz aus der Nähe abgehört. Noch im Jahr 2021, soviel weiß man, kam Selenskyj auch zu Minditschs Geburtstag.
Wieviel wusste Selenskyj?
Einerseits ist es ein positives Zeichen für die Ukraine, dass Präsident Selenskyj vergleichsweise deutlich auf den Skandal reagiert hat. Er forderte mutmaßlich involvierte Regierungsmitglieder wie den amtierenden Justiz- und ehemaligen Energieminister Herman Haluschtschenko sowie seine Nachfolgerin als Energieministerin, Switlana Hrintschuk, zum Rücktritt auf und ließ gegen Minditsch und einen weiteren Hintermann Sanktionen verhängen.
Offen aber bleibt, wieviel Selenskyj selbst über die nun ans Licht gekommenen Machenschaften wusste. Immerhin soll er mit Minditsch bis zuletzt zumindest in Kontakt gestanden haben. Fraglich ist auch, ob es zwischen den Fällen von Minditsch und Ex-Vizepremier Tschernyschow Verbindungen gibt – und zu dem gescheiterten Versuch vom Sommer, die Unabhängigkeit der Antikorruptionsorgane einzuschränken. Immerhin eines ist klar: Dass auch Selenskyj selbst im bisher nicht veröffentlichten Teil der „Minditsch Bänder“ zu hören sein soll, ist reine Spekulation und bisher durch nichts belegt.
Möglicherweise auch Korruption in der Rüstungsindustrie
Spannender sind zwei weitere Aspekte: Zum einen geht es dabei um die Rüstungsindustrie. In Gerichtsverhandlungen zur Causa Minditsch erklärte die Sonderstaatsanwaltschaft für Korruption (SAP), dieser habe nicht nur Einfluss auf den ehemaligen Energie- und heutigen Justizminister Herman Haluschtschenko genommen, sondern auch auf Rustem Umerow, der einst Verteidigungsminister war und seit Juli als Sekretär des Nationalen Sicherheitsrates fungiert.
Noch größere Sprengkraft könnten mutmaßliche Verbindungen Minditschs zum Unternehmen Fire Point haben, dem größten ukrainischen Produzenten von Langstreckendrohnen, der auch den Marschflugkörper Flamingo entwickelt hat. Die Produktion von Fire Point gilt Beobachter:innen zufolge als effektiv. Allerdings ist die Firma wie aus dem Nichts entstanden – und im politischen Kyjiw machen schon länger Gerüchte die Runde, NABU könnte diesbezüglich Fragen zu überhöhten Preisen für Drohnen haben.
Der zweite Aspekt ist die mögliche Verwicklung von Selenskyjs mächtigem Stabschef Andrij Jermak, die NABU bisher weder bestätigt noch dementiert hat. Jermak ist der engste Vertraute des Präsidenten. Er gilt als effektiver Verhandler, auch auf der internationalen Bühne, ist jedoch in der Ukraine als fragwürdiger Strippenzieher äußerst umstritten.
Mit dem Einflussbereich von Tymur Minditsch, der erst in den vergangenen paar Jahren an Bedeutung gewann, hatte die Machtvertikale um Jermak eigentlich wenig zu tun: Während sich Jermak auf außen- und innenpolitische Aspekte konzentrierte, war Minditsch vor allem in der Wirtschaft aktiv, besonders im Energiesektor. Diese Strukturen liefen eher parallel nebeneinander her. So wurden bei der letzten Regierungsumbildung im Juli vier Minister informell der sogenannten Minditsch-Quote zugerechnet. Dass Jermak von den Machenschaften des korrupten Unternehmers jedoch zumindest gewusst haben könnte, ist durchaus wahrscheinlich.
Bemerkenswerte Arbeit der Antikorruptionsorgane
In jedem Fall steht Präsident Selenskyj derzeit unter großem Druck – nicht nur wegen des Vorrückens der russischen Armee und massiver Stromausfälle. Zwar ist kaum zu befürchten, dass er in absehbarer Zeit als Kriegspräsident in Frage gestellt werden könnte, und auch mit Straßenprotesten wie im Sommer rechnet derzeit niemand. Dennoch könnte Selenskyj gezwungen sein, einige Leute in seinem Team auszuwechseln. Und einen bitteren Beigeschmack wird der Fall Minditsch ohnehin noch längere Zeit hinterlassen.
Wirklich bemerkenswert aber ist, dass unabhängige Antikorruptionsbehörden wie NABU und SAP in der Ukraine selbst im Krieg und trotz erheblicher innenpolitischer Widerstände effektiv arbeiten und mit den Ergebnissen ihrer Ermittlungen ranghohe Staatsvertreter belasten. Der innenpolitische Druck auf die Antikorruptionsbehörden war übrigens auch unter Selenskyjs Vorgänger Petro Poroschenko keineswegs kleiner.
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