Der Angriff auf die Anti­kor­rup­ti­ons­be­hör­den gefähr­det die EU-Bei­tritts­per­spek­tive der Ukraine

Foto: IMAGO /​ Nur­Photo

Ein umstrit­te­nes neues Gesetz, das unab­hän­gige Anti­kor­rup­ti­ons­be­hör­den der Kon­trolle der Gene­ral­staats­an­walt­schaft unter­stel­len soll, stößt auf ent­schlos­se­nen Wider­stand aus der ukrai­ni­schen Zivil­ge­sell­schaft. Das Gesetz bringt nicht nur die Gewal­ten­tei­lung in Gefahr, sondern auch den EU-Bei­tritt des Landes.

Die ukrai­ni­sche Regie­rung ris­kiert aus­ge­rech­net in einem kri­ti­schen Moment des EU-Bei­tritts­pro­zes­ses eine Aus­höh­lung rechts­staat­li­cher Prin­zi­pien. Durch das am 22. Juli von der Wer­chowna Rada, dem ukrai­ni­schen Par­la­ment ver­ab­schie­dete Gesetz Nr. 12414, das Prä­si­dent Wolo­dymyr Selen­skyj noch am selben Abend mit seiner Unter­schrift in Kraft setzte, werden zen­trale Prin­zi­pien der Rechts­staat­lich­keit ver­letzt. Laut EU-Kom­mis­sion zählen ein unab­hän­gi­ges Jus­tiz­sys­tem, der Kampf gegen Kor­rup­tion und die Achtung der Grund­rechte – sowohl in der Gesetz­ge­bung als auch in der Praxis – zu den tra­gen­den Säulen der euro­päi­schen Wer­te­ge­mein­schaft. Das Gesetz wirft die Frage auf, ob hinter ihm ein bewuss­tes macht­po­li­ti­sches Kalkül der poli­ti­schen Führung in Kyjiw steht.

Das Gesetz stellt poli­ti­sche Loya­li­tät über Rechtsstaatlichkeit

Das Gesetz Nr. 12414 sieht vor, die beiden bisher unab­hän­gig agie­ren­den Behör­den SAP (Son­der­staats­an­walt­schaft) und NABU (Natio­na­les Anti­kor­rup­ti­ons­büro) der Gene­ral­staats­an­walt­schaft zu unter­stel­len – ein Schritt, der die seit 2015 auf­ge­baute Anti­kor­rup­ti­ons­ar­chi­tek­tur de facto zer­stö­ren würde.

Damit ver­lie­ren beide Schlüs­sel­be­hör­den ihre Unab­hän­gig­keit und werden künftig durch die Gene­ral­staats­an­walt­schaft kon­trol­liert – eine Insti­tu­tion, die trotz for­ma­ler Zuge­hö­rig­keit zur Justiz in der Praxis anfäl­lig für poli­ti­sche Ein­fluss­nahme ist. Es handelt sich um keinen Reform­schritt, sondern einen Rück­fall in die Zeit vor den Maidan Pro­tes­ten, als poli­ti­sche Loya­li­tät sys­te­ma­tisch über Rechts­staat­lich­keit gestellt wurde.

Diese Ent­wick­lung ist sym­pto­ma­tisch für den grund­le­gen­den Kon­flikt zwi­schen Macht­er­halt und Refor­men, der die ukrai­ni­sche Politik prägt. Doch im Krieg, da sicher­heits­po­li­ti­sche Prio­ri­tä­ten gelten und der innen- wie außen­po­li­ti­schen Druck mini­miert ist, wird dieser Ziel­kon­flikt zum exis­ten­zi­el­len Stress­test für die ukrai­ni­sche Demokratie.

His­to­risch galten NABU und SAP als Leucht­turm­pro­jekte, die mit inter­na­tio­na­ler Unter­stüt­zung sys­te­mi­sche Kor­rup­tion in der Ukraine ein­däm­men konnten. Ihre Erfolge bei der Ver­fol­gung hoch­ran­gi­ger Fälle machten sie zugleich angreif­bar, ins­be­son­dere dort, wo ihre Arbeit mit bestehen­den Inter­es­sen in Kon­flikt geriet. Das Gesetz Nr. 12414 mar­kiert einen Tief­punkt im jah­re­lan­gen Ringen um insti­tu­tio­nelle Unabhängigkeit.

Eine ernst­hafte Gefähr­dung für die EU-Beitrittsperspektive

Rechts­staat­lich­keit, Gewal­ten­tei­lung und Kor­rup­ti­ons­be­kämp­fung sind keine bloßen Erwar­tun­gen, sondern eine not­wen­dige Bedin­gung für einen EU-Bei­tritt. Diese Grund­prin­zi­pien sind in Artikel 2 des Ver­trags über die EU ver­bind­lich fest­ge­schrie­ben und bilden die recht­li­che Basis des Bei­tritts­pro­zes­ses. Kon­kre­ti­siert wird dieser im EU-Acquis, beson­ders in den Kapi­teln 23 („Justiz und Grund­rechte“) und 24 („Justiz, Frei­heit und Sicher­heit“). Zentral sind rich­ter­li­che Unab­hän­gig­keit, der Aufbau wirk­sa­mer Anti­kor­rup­ti­ons­be­hör­den sowie der Schutz indi­vi­du­el­ler Grund­rechte in Gesetz­ge­bung und Praxis.

Vom Gesetz Nr. 12414 betrof­fen ist ins­be­son­dere Cluster 1 der aktu­el­len Bei­tritts­ver­hand­lun­gen, also jener Abschnitt, der die grund­le­gen­den rechts­staat­li­chen und insti­tu­tio­nel­len Vor­aus­set­zun­gen für eine EU-Mit­glied­schaft defi­niert. Die Reform eröff­net nicht allein Ungarn neue Hebel zur Blo­ckade. Viel­mehr könnten alle EU‑Mitgliedstaaten, in denen die Unter­stüt­zung für die ukrai­ni­sche EU‑Mitgliedschaft fragil ist, künftig ähn­li­che Veto‑Strategien ver­fol­gen. Ungarns Minis­ter­prä­si­dent Viktor Orbán hat bereits mehr­fach gezeigt, wie ein Ein­zel­staat mit seinem Veto­recht Hilfs­pa­kete und Ver­hand­lungs­pha­sen blo­ckie­ren kann. Selbst bei wohl­wol­len­der Bewer­tung durch die EU‑Kommission könnten Rück­schritte in der Reform‑ und Rechts­staat­lich­keit für solche Staaten als Vor­wände dienen.

Zugleich betonen EU‑Spitzenvertreter wie Ursula von der Leyen unmiss­ver­ständ­lich: Jede Aus­höh­lung der Insti­tu­tio­nen und Kor­rup­ti­ons­be­kämp­fung kann die Bei­tritts­per­spek­tive ernst­haft gefährden.

Die Lage wird durch die der­zei­tige Kop­pe­lung des Scree­ning-Pro­zes­ses der Ukraine mit der Repu­blik Moldau zusätz­lich erschwert. Es besteht die reale Gefahr einer Zwei-Klassen-Dynamik inner­halb der EU-Erwei­te­rungs­po­li­tik. Rück­schritte in der Ukraine könnten zu einer poli­tisch sicht­ba­ren Aus­ein­an­der­ent­wick­lung führen, mit poten­zi­ell weit­rei­chen­den Kon­se­quen­zen für beide Länder. Auch wenn geo­po­li­ti­sche Erwä­gun­gen derzeit für eine kon­ti­nu­ier­li­che Unter­stüt­zung der Ukraine spre­chen, bleibt der Bei­tritts­pro­zess recht­lich eng gefasst und an klare Bedin­gun­gen gebun­den. So könnten sich kurz­fris­tige innen­po­li­ti­sche Macht­in­ter­es­sen in der Ukraine zu einem erheb­li­chen Hin­der­nis für die euro­päi­sche Per­spek­tive des Landes entwickeln.

Mas­si­ver Wider­stand aus der ukrai­ni­schen Zivilgesellschaft

Ohne unab­hän­gige Kor­rup­ti­ons­er­mitt­lun­gen droht die Ein­schrän­kung wich­ti­ger EU-Finan­zie­rung wie der Ukraine-Faci­lity. Mit einem Volumen von knapp 50 Mil­li­ar­den Euro bis 2027 ist dieses Pro­gramm eine zen­trale Säule der öffent­li­chen Aus­ga­ben der Ukraine. Die Aus­zah­lung der Mittel ist an klare Bedin­gun­gen geknüpft – ins­be­son­dere an eine glaub­wür­dige Kon­trolle durch ukrai­ni­sche Ermitt­lungs­be­hör­den. Wird deren Unab­hän­gig­keit infrage gestellt, steht mehr als nur die Fort­füh­rung der finan­zi­el­len Unter­stüt­zung auf dem Spiel. Es ist ein poten­zi­el­ler Ver­trau­ens­bruch mit erheb­li­chem Eskalationsrisiko.

Das Gesetz Nr. 12414 könnte weit­rei­chende Signal­wir­kung ent­fal­ten: Er würde nicht nur das aktu­elle Unter­stüt­zungs­ni­veau gefähr­den, sondern auch Zweifel an der Ver­läss­lich­keit und Reform­fä­hig­keit der Ukraine im EU-Bei­tritts­pro­zess schüren. Diese Sze­na­rien sind zwar noch hypo­the­tisch, die ukrai­ni­sche Regie­rung kann aber nicht einfach so tun, als ob sie nicht existieren.

Während Mili­tär­hil­fen grund­sätz­lich nicht an Bedin­gun­gen geknüpft werden dürfen, sieht das bei zivilen Finanz­hil­fen ganz anders aus. Hier stellen sich zuneh­mend Fragen zur lang­fris­ti­gen Trag­fä­hig­keit des west­li­chen „Reform-für-Geld“-Modells. Ob und wie die ukrai­ni­sche Regie­rung oder ihre west­li­chen Partner diese Debatte ange­sichts der aktu­el­len Umstände führen können, ist unklar.

Das Gesetz Nr. 12414 stieß in der ukrai­ni­schen Zivil­ge­sell­schaft auf mas­si­ven Wider­stand. Sie reagierte mit laut­star­ken öffent­li­chen Pro­tes­ten in vielen Städten des Landes, und das trotz der anhal­ten­den rus­si­schen Luft­an­griffe. Das macht deut­lich, dass es der Zivil­ge­sell­schaft nicht um einen Regie­rungs­wech­sel geht, sondern um die Ver­tei­di­gung demo­kra­ti­scher Stan­dards – auch und gerade im Krieg.

Ein neuer Gesetz­ent­wurf soll die Unab­hän­gig­keit der Anti­kor­rup­ti­ons­be­hör­den wiederherstellen

Inmit­ten des andau­ern­den Kriegs steht die ukrai­ni­sche Regie­rung vor schwie­ri­gen Auf­ga­ben: Wie lassen sich Sicher­heit, euro­päi­sche Inte­gra­tion und demo­kra­ti­scher Anspruch in Ein­klang bringen?

Zwar ist der demo­kra­ti­sche Rück­schritt teil­weise durch das Kriegs­recht erklär­bar, doch das ver­ab­schie­dete Gesetz Nr. 12414 droht, diese Aus­nah­me­si­tua­tion zu ver­fes­ti­gen. Die Schwä­chung unab­hän­gi­ger Anti-Kor­rup­ti­ons­be­hör­den lässt Zweifel daran auf­kom­men, ob Par­la­ment und Regie­rung hier tat­säch­lich einer Kriegs­not­wen­dig­keit folgen oder andere poli­ti­schen Inter­es­sen ver­folgt werden.

Erst nach anhal­ten­dem öffent­li­chem Druck und inter­na­tio­na­ler Kritik lenkte Prä­si­dent Selen­skyj ein. Er brachte am 24. Juli einen neuen Gesetz­ent­wurf in die Wer­chowna Rada ein, der die Unab­hän­gig­keit von NABU und SAP wie­der­her­stel­len soll. Par­la­ments­prä­si­dent Ruslan Ste­fant­schuk kün­digte dar­auf­hin an, dass der Entwurf in einer Son­der­sit­zung am 31. Juli behan­delt werden soll, denn das Par­la­ment befin­det sich derzeit in der Som­mer­pause. Kon­krete Details zum neuen Entwurf liegen bislang nicht öffent­lich vor.

Der neue Entwurf ist ein wich­ti­ges Signal, doch ohne die for­melle Rück­nahme von Gesetz Nr. 12414 bleiben Zweifel bestehen, nicht zuletzt wegen unter­bro­che­ner Kor­rup­ti­ons­er­mitt­lun­gen und des ent­stan­de­nen Ver­trau­ens­ver­lusts. Die ukrai­ni­sche Zivil­ge­sell­schaft warnt zu Recht vor Gefah­ren für die Unab­hän­gig­keit ukrai­ni­scher Insti­tu­tio­nen und – im grö­ße­ren Zusam­men­hang – für die Gewal­ten­tei­lung. Die ukrai­ni­sche Zivil­ge­sell­schaft behaup­tet ihre Schlüs­sel­rolle in der Ver­tei­di­gung demo­kra­ti­scher Stan­dards, selbst unter Kriegs­be­din­gun­gen. Dabei sieht sie sich als Ver­tei­di­ge­rin der euro­päi­schen Grund­werte und ent­schie­dene Unter­stüt­ze­rin des EU-Bei­tritts­pro­zes­ses der Ukraine.

Nicole Shers­tyuk ist Politik- und Wirt­schafts­wis­sen­schaft­le­rin (M.A.) mit dem Schwer­punkt auf EU-Erwei­te­rung, Gover­nance-Refor­men und der Ukraine.

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