Das Risiko des Nichthandelns

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Europa braucht eine gemein­same Ver­tei­di­gungs­stra­te­gie mit der Ukraine – und sollte das Land als stra­te­gi­schen Partner begrei­fen. Ein­drü­cke und Ein­schät­zun­gen von einer LibMod-Reise mit Bundestagsmitarbeiter:innen von CDU/​CSU, SPD und Bündnis 90/​Die Grünen nach Kyjiw.

Am 6. Sep­tem­ber stand ich spät­abends vor dem Kyjiwer Haupt­bahn­hof und wartete auf den Zug nach Chelm, jenem pol­ni­schen Grenz­bahn­hof, über den der 25 Stunden lange Weg aus Kyjiw nach Berlin führt. Wie in fast jeder Nacht gab es Luft­alarm, seit meh­re­ren Stunden schon. Das Bahn­hofs­ge­bäude war gesperrt, Poli­zis­ten schick­ten Pas­sa­giere in den Luft­schutz­kel­ler unter dem Bahnhof. Aus allen Rich­tun­gen näher­ten sich Kyjiw die töd­li­chen Shahed-Drohnen, jede von ihnen drei­ein­halb Meter lang, mit zwei­ein­halb Metern Spann­weite und einer Spreng­la­dung zwi­schen 50 und 90 Kilogramm.

Acht Stunden später wachte ich im Zug auf und hörte, wie Pas­sa­gie­rin­nen in meinem Wagen mit ihren Ange­hö­ri­gen tele­fo­nier­ten: „Bist du am Leben?“, „Alles gut bei euch?“. In jener Nacht griff Russ­land mehrere Städte in der Ukraine mit einer Rekord­zahl von über 800 Drohnen an, dazu kamen Marsch­flug­kör­per und bal­lis­ti­sche Raketen. Unter den Toten in Kyjiw waren ein Neu­ge­bo­re­ner und seine Mutter. Das Gebäude des Minis­ter­ka­bi­netts im Regie­rungs­vier­tel stand in Flammen.

Kein Waf­fen­still­stand in Sicht

Aus Sicht ukrai­ni­scher Expert:innen, mit denen eine Dele­ga­tion von LibMod und Bundestagsmitarbeiter:innen in den Tagen vor diesem Angriff in der Ukraine sprach, nutzt Putin die Illu­sion von Diplo­ma­tie momen­tan vor allem, um Zeit zu gewin­nen, Waffen anzu­häu­fen und sowohl Angriffe auf ukrai­ni­sche Städte zu inten­si­vie­ren als auch den Druck an der Front zu erhöhen. Nichts spräche für eine Bereit­schaft Russ­lands zum Dialog oder zu echten Friedensverhandlungen.

Im Gegen­teil: Momen­tan habe Putin nicht den gerings­ten Anreiz, den Krieg zu beenden. Die rus­si­schen Streit­kräfte geben an allen Front­ab­schnit­ten den Takt vor. „Russ­lands impe­ria­lis­ti­sche Vor­stel­lung und seine Pläne gegen­über der Ukraine haben sich nicht geän­dert“, sagt Yehor Cher­niev, Abge­ord­ne­ter im Ver­tei­di­gungs­aus­schuss der Wer­chowna Rada, dem ukrai­ni­schen Par­la­ment. Ernst­hafte Ver­hand­lun­gen mit Russ­land oder gar ein schnel­ler Frie­denschluss seien deshalb eine Illusion.

In der west­li­chen Debatte geht es beim wich­ti­gen Thema Sicher­heits­ga­ran­tien stets nur um die Zeit nach einem Waf­fen­still­stand. Ein solcher ist aber in abseh­ba­rer Zukunft kaum vor­stell­bar. Kom­man­deure der Ter­ri­to­ri­al­ver­tei­di­gung äußer­ten gegen­über LibMod die Ein­schät­zung, dass die Kämpfe in den nächs­ten sechs bis zwölf Monaten inten­si­ver werden.

Kann die Ukraine sich wei­ter­hin verteidigen?

Die Ukraine verfügt zurzeit nicht über die not­wen­di­gen Kapa­zi­tä­ten für eine effi­zi­ente Ver­tei­di­gung. Die ukrai­ni­schen Streit­kräfte können zwar die Front­li­nie sta­bi­li­sie­ren, aber für eine Gegen­of­fen­sive fehlen die Reser­ven. In den kom­men­den Monaten wird daher wahr­schein­lich weder der rus­si­schen noch der ukrai­ni­schen Seite ein Durch­bruch gelingen.

In dieser Lage setzt die Ukraine auf eine Stra­te­gie, die der ehe­ma­lige Ver­tei­di­gungs­mi­nis­ter Andriy Zago­rod­nyuk als „stra­te­gi­sche Neu­tra­li­sie­rung“ beschreibt: Die Ukraine ver­sucht, mit Hilfe ihrer Partner, Russ­land am Boden und in der Luft zu blo­ckie­ren. Das Schwarze Meer bietet dafür ein ein­drucks­vol­les Bei­spiel: Kyjiw hat die See­blo­ckade seiner Schwarz­meer­hä­fen durch Russ­land nicht auf diplo­ma­ti­schem Wege gelöst, sondern durch ent­schlos­se­nes, unkon­ven­tio­nel­les Handeln. Durch regel­mä­ßige Seedroh­nen­an­griffe auf rus­si­sche Kriegs­schiffe im Schwar­zen Meer Schiffe in Sewas­to­pol ver­drängte die Ukraine die rus­si­sche Flotte Rich­tung Osten. Rus­si­sche Kriegs­schiffe müssen heute so vor­sich­tig sein, dass sie kaum noch Schaden anrich­ten können, und in der ukrai­ni­schen Hafen­stadt Odesa legen wieder fast genauso viele Han­dels­schiffe an wie vor dem Krieg.

Auf ähn­li­che Weise geht die Ukraine gegen die Haupt­fi­nan­zie­rungs­quelle der rus­si­schen Wirt­schaft vor: die Ölin­dus­trie. Sie greift gezielt Ölin­fra­struk­tur an und stört damit die rus­si­sche Logis­tik, schwächt Moskaus Ein­nah­men durch Ölex­porte und schafft Ver­sor­gungs­eng­pässe an rus­si­schen Zapf­säu­len. So kann Russ­land den Krieg zwar fort­set­zen, seine Kriegs­ziele aber nicht erreichen.

Was die ukrai­ni­schen Streit­kräfte jetzt drin­gend brau­chen, sind Luft­ver­tei­di­gungs­sys­teme, Muni­tion und Ersatz­teile – unter anderem für die Gepard-Systeme, die sich als beson­ders wirksam gegen die immer häu­fi­ger ein­ge­setz­ten Shahed-Drohnen erwie­sen haben. An der Front benö­tigt die Armee außer­dem Artil­le­rie­ge­schosse und unbe­mannte Boden­fahr­zeuge. Letz­tere können das Minen­le­gen und die Bergung von Ver­wun­de­ten über­neh­men – was die Moral der aus­ge­dünn­ten ukrai­ni­schen Truppen stärken würde.

Lang­stre­cken­waf­fen für die Ukraine

Um die mili­tä­ri­schen Fähig­kei­ten Russ­lands effek­tiv zu stören, ist ent­schei­dend, dass die ukrai­ni­sche Armee Ziele – etwa Mili­tär­flug­hä­fen oder Muni­ti­ons­fa­bri­ken – tief im Lan­des­in­ne­ren angrei­fen kann. Darin besteht mit­tel­fris­tig auch die effi­zi­en­teste Methode der Luft­ab­wehr. Solche Angriffe kann die Ukraine selbst ohne west­li­che Lang­stre­cken­ra­ke­ten erfolg­reich durch­füh­ren, wie etwa die Ope­ra­tion Spin­nen­netz im Sommer 2025 zeigte, als ukrai­ni­sche Drohnen viele rus­si­sche Kampf­flug­zeuge zer­störte oder beschädigte.

Um die rus­si­sche Angriffs­fä­hig­keit zu lähmen, reichen Angriffe mit Drohnen aller­dings nicht aus. Deutsch­land und andere euro­päi­schen Partner sollten der Ukraine nicht nur die Erlaub­nis ertei­len, mili­tä­ri­sche und stra­te­gi­sche Ziele tief im rus­si­schen Hin­ter­land anzu­grei­fen, sondern die Ukraine auch mit den nötigen Lang­stre­cken­waf­fen aus­rüs­ten. Reich­weite und Feu­er­kraft der ukrai­ni­schen Tie­fen­schläge ließen sich dadurch dra­ma­tisch verbessern.

 „Seid bereit für den Krieg der Zukunft“

Der Krieg in der Ukraine zeigt, dass Ver­tei­di­gung ohne stän­dige tech­ni­sche Wei­ter­ent­wick­lung kaum möglich ist. Die ukrai­ni­sche Luft­ver­tei­di­gung stört Lenk­bom­ben per Elek­tro­nik und gegen Shahed-Drohnen setzt sie seit Kurzem erfolg­reich Abfang­droh­nen ein. Gegen bal­lis­ti­sche Raketen – wei­ter­hin eine große Gefahr für die gesamte Ukraine – schüt­zen die US-ame­ri­ka­ni­schen Flug­ab­wehr­sys­teme vom Typ Patriot am effek­tivs­ten. Da sie aber knapp und teuer sind und nur von den USA – einem zuneh­mend unzu­ver­läs­si­gen Partner –her­ge­stellt werden, ver­sucht Kyjiw eine hei­mi­sche Alter­na­tive zu entwickeln.

Um Russ­land auf­zu­hal­ten, muss Europa dabei effi­zi­en­ter mit der Ukraine zusam­men­ar­bei­ten. Statt von euro­päi­scher Unter­stüt­zung für die Ukraine zu spre­chen, sollte Europa sich als einen Partner begrei­fen, der mit der Ukraine zusam­men eine gemein­same Ver­tei­di­gungs­stra­te­gie ent­wi­ckelt. Dieses Umden­ken muss in Deutsch­land noch statt­fin­den, in den nor­di­schen und bal­ti­schen Ländern ist dies längst geschehen.

Europa findet nach jahr­zehn­te­lan­ger sicher­heits­po­li­ti­scher Abhän­gig­keit von den USA nur langsam in die Rolle, selbst für seine Sicher­heit zu sorgen. Dabei kann die euro­päi­sche Sicher­heits­po­li­tik von Erfah­rung der Ukraine lernen. Die ukrai­ni­sche Abge­ord­nete Inna Sovsun rief die Dele­ga­tion des Bun­des­ta­ges auf: „Seid bereit für die Kriege der Zukunft – und seid innovativ.“

Mili­tä­ri­sche Inno­va­tio­nen in der Ukraine fördern

Das bedeu­tet auch, dass es zum jet­zi­gen Zeit­punkt wenig sinn­voll ist, nen­nens­werte Droh­nen­ar­se­nale in Deutsch­land anzu­le­gen – denn diese wären bis zu ihrem Einsatz längst von der rasan­ten tech­no­lo­gi­schen Ent­wick­lung über­holt. Statt­des­sen müssen hier­zu­lande Pro­duk­ti­ons­ka­pa­zi­tä­ten für die Zukunft aus­ge­baut werden – Kapa­zi­tä­ten, die schon heute der Ver­tei­di­gung der Ukraine dienen könnten. Bis es soweit ist, muss sich aller­dings noch einiges ändern. So sind büro­kra­ti­sche Pro­zesse in Deutsch­land viel zu langsam. Jedes Soft­ware­up­date in einem Waf­fen­sys­tem braucht momen­tan bis zu ein­ein­halb Jahre, bevor es zuge­las­sen ist.

Die Ukraine hin­ge­gen baut enorm schnell und inno­va­tiv Pro­duk­ti­ons­ka­pa­zi­tä­ten aus. Der limi­tie­rende Faktor ist die nicht aus­rei­chende Finan­zie­rung. Gleich­zei­tig ent­schei­det die Geschwin­dig­keit der Inno­va­tio­nen darüber, ob die Ukraine Russ­land Einhalt gebie­ten kann. „Momen­tan hat Russ­land mehr Res­sour­cen und ska­liert und imple­men­tiert ukrai­ni­sche Inno­va­tio­nen schnel­ler als die Ukraine selbst“, sagt Yehor Cher­niev. Auch andere Gesprächspartner:innen aus Militär und ukrai­ni­schen Think Tanks teilen diese Ein­schät­zung. Und genau dort, wo das nötige Geld für die Mas­sen­pro­duk­tion fehlt, könnten euro­päi­sche Partner ein­sprin­gen – im Inter­esse ihrer eigenen Sicherheit.

Vor Ort in der Ukraine lernen

Auch bei der mili­tä­ri­schen Aus­bil­dung könnte die Ukraine Erfah­run­gen wei­ter­ge­ben. Dazu müssten ver­mehrt Soldat:innen und Fach­leute in die Ukraine reisen, um vor Ort zu lernen wie in einem von Drohnen domi­nier­ten Schlacht­feld Auf­klä­rung, Angriff, Kom­mu­ni­ka­tion, tak­ti­sche Medizin und Luft­ab­wehr funk­tio­nie­ren. Einige euro­päi­sche Länder sind in dieser Hin­sicht bereits aktiv, dar­un­ter Däne­mark. Deutsch­land jedoch scheut wei­ter­hin das Risiko, das mit solchen Reisen ver­bun­den ist. In diesem Fall aber ist das Risiko des Nicht­han­delns größer: Schließ­lich ist die Bedro­hung durch Drohnen die größte Lücke in der deut­schen Ver­tei­di­gung. Nach den jüngs­ten rus­si­schen Droh­nen­an­grif­fen auf Polen und meh­re­ren Luft­raum­ver­let­zun­gen durch rus­si­sche Drohnen in Rumä­nien wäre eine Aus­bil­dung direkt in der Ukraine beson­ders sinnvoll.

Waf­fen­still­stand, aber unter welchen Bedingungen

Die Ukrainer:innen sehen in einem Waf­fen­still­stand ohne klare Sicher­heits­ga­ran­tien vor allem die Gefahr, dass Russ­land seine Aggres­sio­nen unver­min­dert fort­setzt. Trotz zuneh­men­der Kriegs­mü­dig­keit, trotz täg­li­cher – und vor allem nächt­li­cher – Angriffe durch Drohnen und Raketen und drei­ein­halb Jahre andau­ern­dem Schlaf­man­gel zeigt die ukrai­ni­sche Gesell­schaft nach wie vor keine Bereit­schaft, einem Waf­fen­still­stand um jeden Preis zuzustimmen.

Sämt­li­che Gesprächspartner:innen in Kyjiw beton­ten, es gehe Putin nicht um Ter­ri­to­rien, sondern darum, die Ukraine als sou­ve­rä­nen Staat zu ver­nich­ten – eine Meinung, die auch viele west­li­che Wissenschaftler:innen und Expert:innen teilen. Die rus­si­sche Armee, so ihre Ein­schät­zung, würde an den Grenzen der Regio­nen Donezk, Luhansk, Sapo­rischschja und Cherson, die Russ­land teil­weise besetzt und wie die Krim völ­ker­rechts­wid­rig für sich bean­sprucht, nicht Halt machen. Im Gegen­teil: Sie würde eine Waf­fen­ruhe nutzen, um für einen wei­te­ren Angriff aufzurüsten.

Die ukrai­ni­sche Bevöl­ke­rung knüpft ihre Zustim­mung zu einem Waf­fen­still­stand deshalb klar an inter­na­tio­nale Sicher­heits­ga­ran­tien. Laut der jüngs­ten Umfra­gen der ukrai­ni­schen Rating Group sind 75 % der Bevöl­ke­rung der Meinung, die Ukraine sollte einem Waf­fen­still­stand nur unter diesen Bedin­gun­gen zustim­men. Zu den wich­tigs­ten Sicher­heits­ga­ran­tien zählen dabei die Finan­zie­rung der Armee und die Lie­fe­rung von Waffen durch Part­ner­län­der (52 %), die Ver­pflich­tung von Ver­bün­de­ten, im Falle eines erneu­ten Angriffs in den Krieg ein­zu­grei­fen (48 %) sowie die inter­na­tio­nale Über­wa­chung des Luft- und See­raums (44 %).

Zum Über­le­ben reicht die jetzige Unter­stüt­zung nicht aus

Da eine mög­li­che Waf­fen­ruhe bisher nicht zur Debatte steht und die NATO-Mit­glied­schaft der Ukraine derzeit uner­reich­bar scheint, ist die ukrai­ni­sche Armee im Moment die einzige belast­bare Sicher­heits­ga­ran­tie für die Ukraine. Doch während Russ­land seine gesamte Kriegs­ma­schi­ne­rie ein­setzt und dabei von China, dem Iran und Nord­ko­rea unter­stützt wird, liefere Deutsch­land, so ein hoch­ran­gi­ger euro­päi­scher Diplo­mat gegen­über LibMod, als einer der größten Unter­stüt­zer der Ukraine bei Weitem nicht genug, um den Bedarf der ukrai­ni­schen Armee zu decken und dem Land eine effi­zi­ente Ver­tei­di­gung zu ermög­li­chen – von der Befrei­ung der besetz­ten Gebiete ganz zu schweigen.

Um künftig erfolg­reich ver­han­deln zu können, muss die Ukraine anders als bisher aus einer Posi­tion mili­tä­ri­scher Stärke heraus agieren. Um sie darin zu unter­stüt­zen, müssen ihre euro­päi­schen Partner deut­lich an Tempo und Ent­schlos­sen­heit zulegen. Russ­land nutzt jede Ver­zö­ge­rung aus: Es ist nur eine Frage weniger Wochen, bis an Kyjiws Nacht­him­mel nicht mehr 800, sondern 1.000 Drohnen fliegen.

Portrait von Daria Malling

Daria Malling ist Refe­ren­tin im Ukraine Programm

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