Alle Macht der Zentrale?

Hennadij Truchanow
Foto: IMAGO /​ Ukr­in­form

Mitte Oktober hat Prä­si­dent Selen­skyj dem umstrit­te­nen Bür­ger­meis­ter von Odesa, Hen­na­dij Trucha­now, die Staats­bür­ger­schaft ent­zo­gen. Damit setzt sich eine gefähr­li­che Tendenz fort: Unter dem Deck­man­tel des Krieges wird die Ent­schei­dungs­ge­walt im Land immer stärker zentralisiert.

Es war das jüngste Erd­be­ben in der auch in Kriegs­zei­ten aus­ge­spro­chen leben­di­gen ukrai­ni­schen Innen­po­li­tik: die Aus­bür­ge­rung von Hen­na­dij Trucha­now, Bür­ger­meis­ter der stra­te­gisch wich­ti­gen Hafen­stadt Odesa. Trucha­now wurde 2014 in dieses Amt gewählt – und ver­liert es mit der Aus­bür­ge­rung automatisch.

Unum­strit­ten war Trucha­now niemals: In den schil­lern­den 90er Jahren gehörte er zur kri­mi­nel­len Unter­neh­mer­szene der Stadt und pflegte engste Ver­bin­dun­gen zur rus­si­schen Olig­ar­chen­wirt­schaft. Spä­tes­tens seit der Ver­öf­fent­li­chung der Panama Papers 2016 ist bekannt, dass er seine Off­shore-Firmen auf einen rus­si­schen Pass regis­trierte – auch wenn der rus­si­sche Rei­se­pass, den der ukrai­ni­sche Inlands­ge­heim­dienst SBU nun als Grund­lage für Trucha­nows Aus­bür­ge­rung prä­sen­tierte, dem bul­ga­ri­schen Inves­ti­ga­ti­v­jour­na­lis­ten Christo Grozev zufolge gefälscht ist.

Schon seit 2014 liefen gegen Trucha­now mehrere Straf­ver­fah­ren. Zuletzt ver­haf­tete die Son­der­staats­an­walt­schaft für Kor­rup­tion ihn 2023, weil er sich illegal Fabrik­ge­lände ange­eig­net haben soll. Es war nicht das erste Mal, dass Trucha­now in Gewahr­sam kam – wobei er diesmal erneut gegen Kaution frei­ge­las­sen wurde. Frei­wil­lig will der 60-Jährige seinen Posten als Bür­ger­meis­ter nicht räumen.

Er schiebt seine Lage auf den Kon­flikt mit dem von der Zen­tral­re­gie­rung in Kyjiw ein­ge­setz­ten Gou­ver­neur der Region Odesa, Oleh Kiper, und besteht darauf, seine Unschuld vor Gericht zu bewei­sen. In der Zwi­schen­zeit hat die Ent­schei­dungs­ge­walt aller­dings eine neu geschaf­fene Mili­tär­ver­wal­tung über­nom­men. An ihrer Spitze steht der Geheim­dienst­ge­ne­ral Serhii Lyssak, zuvor Mili­tär­gou­ver­neur der Region Dnipropetrowsk.

Dezen­tra­li­sie­rung als größte Errungenschaft

Der Fall Trucha­now ist des­we­gen brisant, weil es dabei weniger um einen ein­zel­nen Poli­ti­ker mit zwei­fel­haf­tem Ruf geht, als um die Zukunft der lokalen Selbst­ver­wal­tung in der Ukraine. In Odesa sehen selbst Trucha­nows Kritiker:innen die Ent­schei­dung, ihn aus­zu­bür­gern skep­tisch – schließ­lich haben die Men­schen der Stadt ihn 2014 zu ihrem Bür­ger­meis­ter gewählt und dies zuletzt 2020 bestä­tigt. Anders als die Gou­ver­neure der Ver­wal­tungs­re­gio­nen (Oblaste), die der Prä­si­dent per Dekret ernennt, werden Bürgermeister:innen in der Ukraine direkt vom Volk gewählt und genie­ßen damit noch einmal eine andere demo­kra­ti­sche Legitimation.

Die Reform der lokalen Selbst­ver­wal­tung gehörte nach der Revo­lu­tion der Würde 2013/​2014 zu deren größten Errun­gen­schaf­ten. Stadt­ver­wal­tun­gen erhiel­ten dadurch deut­lich mehr Befug­nisse und Ent­schei­dungs­frei­heit bei der Ver­tei­lung von Finanz­mit­teln vor Ort. Das wirkte: Auch wenn die soge­nannte Dezen­tra­li­sie­rungs­re­form damals nicht perfekt war, werden lokale Pro­bleme seither oft deut­lich schnel­ler gelöst – auch und gerade im Ver­tei­di­gungs­krieg gegen Russ­land seit 2022. Wegen des gel­ten­den Kriegs­rechts wurden die nächs­ten Kom­mu­nal­wah­len, die eigent­lich Ende Oktober hätten statt­fin­den müssen, aller­dings aus­ge­setzt; das Par­la­ment ver­län­gerte die Voll­mach­ten aller kom­mu­na­len Vertreter:innen bis zum Ende des Krieges.

Die Kon­flikte zwi­schen der Zen­tral­re­gie­rung in Kyjiw und ein­zel­nen Bür­ger­meis­tern, die derzeit immer wieder auf­flam­men, liegen zum Teil in den Ergeb­nis­sen der Kom­mu­nal­wah­len im Herbst 2020 begrün­det. Die Prä­si­dent­schafts­wahl 2019 hatte Wolo­dymyr Selen­skyj noch über­ra­gend gewon­nen und seine Partei Diener des Volkes hatte im Par­la­ment die abso­lute Mehr­heit geholt. Ein Jahr später jedoch konnte die Prä­si­den­ten­par­tei keine der Lokal­wah­len in den Haupt­städ­ten der ukrai­ni­schen Ver­wal­tungs­ge­biete (Oblaste) für sich ent­schei­den. Dar­auf­hin kam es zu diver­sen Kon­flik­ten, etwa mit dem Bür­ger­meis­ter von Dnipro, Borys Filatov, oder mit Ihor Terek­hov in Charkiw.

Klit­schko und der Prä­si­dent – ein schwie­ri­ges Verhältnis

Die größte Auf­merk­sam­keit erregt – auch inter­na­tio­nal – der Dau­er­kon­flikt zwi­schen Prä­si­dent Selen­skyj und dem Kyjiwer Bür­ger­meis­ter Vitali Klit­schko, der seit Jah­res­be­ginn noch einmal eska­lierte. Bei der Bür­ger­meis­ter­wahl 2020 war die Ver­tre­te­rin von Diener des Volkes in der Haupt­stadt ledig­lich auf den vierten Platz gekom­men, während Ex-Box­welt­meis­ter Klit­schko schon zum zweiten Mal wie­der­ge­wählt wurde. Viel­leicht, weil er das Geschäft der Eigen-PR so glän­zend beherrscht – denn als beson­ders fähiger Bür­ger­meis­ter gilt er nicht: Die Situa­tion im öffent­li­chen Nah­ver­kehr der Stadt ist kata­stro­phal und die unkon­trol­lierte Wei­ter­gabe von Grund­stü­cken an Schein­fir­men sowie deren ille­gale Bebau­ung seit Jahren ein Thema.

Das Ver­hält­nis zwi­schen Zen­tral­re­gie­rung und Bür­ger­meis­ter ist in Kyjiw noch einmal kom­pli­zier­ter als anderswo. Denn Kyjiw ist ein eigenes Ver­wal­tungs­ge­biet (ähnlich wie die Bun­des­län­der Bremen und Berlin) – und die Vor­sit­zen­den dieser Ver­wal­tungs­ge­biete werden nicht gewählt, sondern vom Prä­si­den­ten ernannt. Übli­cher­weise wird der gewählte Bür­ger­meis­ter dabei quasi auto­ma­tisch auch als Chef der Stadt­ver­wal­tung bestä­tigt, als welcher er noch einmal über deut­lich mehr Macht­be­fug­nisse verfügt.

In Kyjiw aller­dings hatten diese Ämter schon mehr­fach unter­schied­li­che Per­so­nen inne. Mit diesem Sze­na­rio hat das Prä­si­di­al­amt Klit­schko bereits vor 2022 einige Male gedroht. Neben der schlech­ten Arbeit des Bür­ger­meis­ters schien Selen­skyj dabei ganz klar ein Dorn im Auge, dass ein Oppo­si­ti­ons­po­li­ti­ker die wich­tigste Stadt des Landes regiert. Nach dem rus­si­schen Groß­an­griff im Februar 2022 schuf der Prä­si­dent schließ­lich eine Mili­tär­ver­wal­tung als obers­tes Macht- und Ent­schei­dungs­zen­trum in der Stadt. Dessen Chef wurde nicht Bür­ger­meis­ter Klit­schko, sondern ein General – was in der dama­li­gen Situa­tion mitten in der Schlacht um die Haupt­stadt nur fol­ge­rich­tig erschien. Er und sein Nach­fol­ger misch­ten sich kaum in die Kom­mu­nal­po­li­tik ein und kon­zen­trier­ten sich auf mili­tä­ri­sche Fragen, sodass die Dif­fe­ren­zen zwi­schen Selen­skyj und Klit­schko nicht allzu offen zutage traten.

Kon­flikt blo­ckiert die Ver­wal­tung in Kyjiw

Anders ist das, seit Selen­skyj Ende 2024 den erfah­re­nen Kyjiwer Büro­kra­ten Tymur Tkat­schenko zum Leiter der Kyjiwer Mili­tär­ver­wal­tung ernannte. Der gehörte zwar einst selbst zur Partei von Vitalij Klit­schko, ist inzwi­schen jedoch deut­lich auf Distanz gegan­gen und gilt ganz klar als Mann des Prä­si­di­al­amts. Tkat­schenko ver­wei­gerte mehr­fach seine Zustim­mung zu Beschlüs­sen der Stadt­ver­wal­tung – die sich wie­derum häufig weigert, dessen Anwei­sun­gen umzu­set­zen. So blo­ckie­ren sich beide Seiten gegen­sei­tig und legen mitten im Krieg die Ver­wal­tung in der Drei-Mil­lio­nen-Stadt lahm. Gegen mehrere Ver­traute von Klit­schko laufen inzwi­schen Kor­rup­ti­ons­ver­fah­ren wegen der ille­ga­len Bebau­ung von Grund­stü­cken und erst kürz­lich kri­ti­sierte Selen­skyj Bür­ger­meis­ter Klit­schko per­sön­lich für dessen Kri­sen­ma­nage­ment und den unzu­rei­chen­den Schutz der Kyjiwer Wär­me­kraft­werke vor rus­si­schen Luftangriffen.

Dass Klit­schko in abseh­ba­rer Zeit voll­kom­men ent­mach­tet wird, ist trotz seiner allen­falls mäßigen Arbeit als Bür­ger­meis­ter jedoch nicht zu erwar­ten – vor allem wegen der zu befürch­ten­den nega­ti­ven Reso­nanz im Ausland, auch und gerade in Deutsch­land. Doch warum Klit­schko sich in dieser Zeit so stark für die 2023 abge­setz­ten Bür­ger­meis­ter von Poltawa und Tscher­ni­hiw ein­setzt, liegt auf der Hand.

Ins­ge­samt ist es gefähr­li­ches Zeichen für die Ukraine, dass die Macht unter dem gel­ten­den Kriegs­recht wieder stark zen­tra­li­siert wird. Nicht zuletzt, weil sich die Dezen­tra­li­sie­rung auch in Zeiten des bewaff­ne­ten Wider­stands als effek­tiv erwie­sen hat – auch wenn dies längst nicht bedeu­tet, dass etwa die Pro­bleme mit der Kor­rup­tion auf lokaler Ebene auch nur ansatz­weise gelöst wären.

Portrait von Denis Trubetskoy

Denis Tru­bets­koy ist in Sewas­to­pol auf der Krim geboren und berich­tet als freier Jour­na­list aus Kyjiw.

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