Zwangs­un­ter­richt und Uni­for­men. Wie die Besat­zungs­macht ukrai­ni­sche Kinder indoktriniert

Foto: IMAGO /​ blick­win­kel

Russ­land hält ein Fünftel der Ukraine besetzt – und hat dort das Bil­dungs­we­sen kom­plett umge­baut, um Kinder zu indok­tri­nie­ren und zu mili­tä­ri­schem Gehor­sam gegen­über der Besat­zungs­macht zu erzie­hen. Wenn Eltern sich wehren, drohen Repres­sa­lien. Manchen Jugend­li­chen scheint es deshalb als ein­zi­ger Ausweg, ihre Heimat zu verlassen.

Der 17-jährige Olek­sandr stammt aus dem ost­ukrai­ni­schen Donezk. Schon seit 2014 hält Russ­land seine Hei­mat­stadt besetzt – vor vier Jahren hat er sie ver­las­sen. Die Narbe an Olek­san­drs Augen­braue stammt nicht von einem Dumme-Jungen-Streich, sondern von Prügel, die ihm ein rus­si­scher Soldat in einem Bus ver­passte. Das war für Olek­sandr der Tief­punkt des Lebens unter rus­si­scher Besat­zung. Sein Ent­schluss, im nicht-besetz­ten Teil des Landes zu stu­die­ren, stand da schon lange fest. Heute ist er Student an einer ukrai­ni­schen Hoch­schule und träumt davon, jungen Men­schen aus den vor­über­ge­hend besetz­ten Gebie­ten dabei zu helfen, sich in der neuen Rea­li­tät zurecht­zu­fin­den. Im Dezem­ber 2024 habe ich mit ihm gespro­chen – für den Podcast „Gene­ra­tion unter Besat­zung“, in dem es um die rus­si­sche Politik in den besetz­ten Gebie­ten geht.

Olek­san­drs Geschichte zeigt exem­pla­risch die Stra­te­gie, die die rus­si­sche Regie­rung seit 2014 sys­te­ma­tisch ver­folgt: Durch die Kon­trolle über das Bil­dungs­we­sen, die Infor­ma­ti­ons­flüsse und das gesamte öffent­li­che Leben will sie die ukrai­ni­sche Iden­ti­tät der Men­schen zer­stö­ren. Seit dem Groß­an­griff 2022 haben die rus­si­schen Behör­den diese Metho­den inten­si­viert und die besetz­ten Gebiete in einen Raum per­ma­nen­ter repres­si­ver Mani­pu­la­tion verwandelt.

Gleich­schal­tung des Bildungswesens

Schon seit 2014 bauen die pro­rus­si­schen Sepa­ra­tis­ten das Bil­dungs­sys­tem in den besetz­ten Teilen der Gebiete Donezk und Luhansk gezielt um. Fächer wie Geschichte der Ukraine und Ukrai­ni­sche Sprache wurden nach und nach ver­drängt und durch neue Fächer wie Geschichte des Vater­lan­des (Geschichte des Donbas) und Bür­ger­kunde des Donbas ersetzt. Dies führte dazu, dass bei jungen Men­schen der Ein­druck ent­stand, diese Regio­nen hätten inner­halb der Ukraine eine Son­der­stel­lung und ihre Exis­tenz als „Volks­re­pu­bli­ken” sei berechtigt.

Die ukrai­ni­sche Sprache blieb in diesen Gebie­ten noch eine gewisse Zeit lang als „Sprache der Völker des Donbas“ offi­zi­ell gedul­det. Im Bil­dungs­sys­tem und in der Ver­wal­tung wurde sie jedoch nicht mehr genutzt, sodass sie schließ­lich ganz aus dem öffent­li­chen Leben ver­schwand. Gleich­zei­tig wurden unter dem Deck­man­tel der huma­ni­tä­ren Hilfe mas­sen­haft rus­si­sche Lehr­bü­cher in die besetz­ten Gebiete gebracht.

Para­mi­li­tä­ri­sche Umer­zie­hung als Staatsdoktrin

Die mili­tä­ri­sche Umer­zie­hung und Aus­bil­dung von Kindern gehört zu den obers­ten Prio­ri­tä­ten der Besat­zungs­be­hör­den. Nicht nur mili­tä­ri­sche Trai­nings­ein­hei­ten und Erste-Hilfe-Kurse wurden in die Lehr­pläne auf­ge­nom­men, sondern auch Unter­richts­stun­den in „Patrio­tis­mus“, in denen regel­mä­ßig Mili­tär­an­ge­hö­rige zu Wort kommen. Zudem wurde die rus­si­sche Jun­ar­mija (dt. Jugend­ar­mee) in den vor­über­ge­hend besetz­ten Gebie­ten aktiv.

Die natio­nal-patrio­ti­sche Jugend­be­we­gung Jun­ar­mija unter­steht dem Ver­tei­di­gungs­mi­nis­te­rium in Moskau und ist seit 2022 von der EU mit Sank­tio­nen belegt. Sie will die Loya­li­tät gegen­über der rus­si­schen Armee fördern, mili­tä­ri­sche Werte ver­mit­teln und Kinder schritt­weise an die Nar­ra­tive des rus­si­schen Patrio­tis­mus her­an­füh­ren. Reisen in die Rus­si­sche Föde­ra­tion, Ver­an­stal­tun­gen mit rus­si­scher Sym­bo­lik und Wett­be­werbe sollen die Jugend stärker an die Besat­zungs­macht binden.

Der Fall Krim: beschleu­nigte „Umer­zie­hung“

Auf der Halb­in­sel Krim haben die neuen Macht­ha­ber das Bil­dungs­sys­tem schon unmit­tel­bar nach deren völ­ker­rechts­wid­ri­ger Anne­xion im März 2014 ins rus­si­sche Rechts­sys­tem inte­griert. Lehr­kräfte für ukrai­ni­sche Sprache und Lite­ra­tur wurden gezwun­gen, sich umschu­len zu lassen, um künftig rus­si­sche Fächer zu unter­rich­ten. Das­selbe galt für Lehr­kräfte anderer Fächer – alle mussten dem „rus­si­schen Stan­dard“ entsprechen.

Beson­de­res Gewicht wird auf der Krim auf die soge­nannte patrio­ti­sche Erzie­hung gelegt. Um den Kindern bei­zu­brin­gen, „ihre neue Heimat zu lieben”, hat die rus­si­sche Besat­zungs­macht spe­zi­elle Lehr­ma­te­ria­len und ‑kon­zepte erstellt. Ein Bericht über deren Umset­zung findet sich bei­spiels­weise im „Jah­res­be­richt 2016 über den Zustand der Zivil­ge­sell­schaft in der Repu­blik Krim“. Darin heißt es, eine Aufgabe der „patrio­ti­schen Erzie­hung“ bestehe darin, „die Jugend auf den Mili­tär­dienst vorzubereiten”.

Die Autor:innen des Berichts stellen fest, dass auf der Krim jähr­lich hun­derte Maß­nah­men zur „mili­tä­risch-patrio­ti­schen Erzie­hung“ durch­ge­führt werden: Unter­richts­stun­den zum Thema, Trai­nings, Ver­an­stal­tun­gen, Rol­len­spiele. Der Bericht beschreibt die Metho­den und Mittel, mit denen den Men­schen unter rus­si­scher Besat­zung eine neue Iden­ti­tät auf­ge­zwun­gen wird. Jedes dieser Themen wäre eine eigene Unter­su­chung wert. Doch der rus­si­sche Groß­an­griff auf die Ukraine seit dem 24. Februar 2022 hat vieles ver­än­dert – auch für die­je­ni­gen, die in den bereits seit 2014 besetz­ten Gebie­ten leben.

Eska­la­tion nach dem 24. Februar 2022

Seit dem Groß­an­griff hat Russ­land weitere ukrai­ni­sche Gebiete unter seine Kon­trolle gebracht: Teile der Regio­nen Sapo­rischschja und Cherson sowie zuvor nicht besetzte Teile der Regio­nen Donezk und Luhansk. Im Sep­tem­ber 2022 ver­kün­dete Moskau den „Anschluss“ dieser Regio­nen an die Rus­si­sche Föde­ra­tion und begann, dort Struk­tu­ren nach dem Vorbild des sowje­ti­schen Zwangs­sys­tems auf­zu­bauen. So werden sie de facto in einen Gulag unter freiem Himmel verwandelt.

Schwer­punkte bei der Umstruk­tu­rie­rung und Ein­glie­de­rung der besetz­ten Gebiete sind Patrio­tis­mus und Armee. So richten rus­si­sche Sicher­heits­kräfte in Schulen soge­nannte mili­tä­risch-patrio­ti­sche Klassen ein: Im Bezirk Berdjansk in der Region Sapo­rischschja gibt es bei­spiels­weise eine Klasse der 336. sepa­ra­ten Gar­de­bri­gade der rus­si­schen Marine – eine Einheit, die direkt an der Erobe­rung der Region betei­ligt war. Und in der Region Cherson hat die Rus­si­sche Natio­nal­garde mit den lokalen Besat­zungs­be­hör­den eine Ver­ein­ba­rung über ein ganzes Netz­werk solcher Klassen unterzeichnet.

Was bedeu­tet die starke Präsenz rus­si­scher Sicher­heits­kräfte in den Schulen in der Praxis? Kinder werden zu „Kadet­ten“ gemacht und erhal­ten Uni­for­men; es finden Unter­richts­stun­den über rus­si­sche Mili­tär­ge­schichte und die Rolle von Sicher­heits­kräf­ten und Armee im Staat­s­ys­tem der Rus­si­schen Föde­ra­tion statt. Mit der Natio­nal­garde ist eine Insti­tu­tion in Schulen ver­tre­ten, die „Wider­stand auf­spü­ren und besei­ti­gen“ soll. Eltern haben dabei keine Wahl. Wer sich gegen eine solche „Bildung“ seiner Kinder wehrt, gerät in den Ver­dacht, illoyal gegen­über der Besat­zungs­macht zu sein – mit allen für das rus­si­sche Regime typi­schen Folgen: Repres­sio­nen, Folter, Festnahmen.

Sozia­les Enga­ge­ment als Kon­troll­in­stru­ment und Karrierehilfe

Par­al­lel dazu baut Russ­land ein Netz­werk für das soziale Enga­ge­ment junger Men­schen auf: Über ein Inter­net­por­tal können sich Kinder und Jugend­li­che für „Frei­wil­li­gen­ak­tio­nen“ regis­trie­ren – etwa für das Auf­räu­men im Park oder die Teil­nahme an Kund­ge­bun­gen unter der Flagge der Rus­si­schen Föde­ra­tion. Daten über die Teil­nahme an solchen Aktio­nen werden im per­sön­li­chen Konto der regis­trier­ten Per­so­nen gesam­melt. Sie können später zum Bei­spiel bei der Auf­nahme an einer Uni­ver­si­tät von Nutzen sein, denn sie fließen in die Ergeb­nisse der „Ein­heit­li­chen Staats­prü­fung“ ein und erhöhen die Chance auf einen Stu­di­en­platz. Ebenso kann nach­ge­wie­se­nes sozia­les Enga­ge­ment bei der Bewer­bung um eine Arbeits­stelle helfen.

Dieses Modell erfüllt mehrere Funk­tio­nen: Es sammelt per­so­nen­be­zo­gene Daten, schafft durch Anreize Abhän­gig­keit und trägt zur Ent­ste­hung eines loyalen Kreises junger Men­schen bei. Dabei handelt es sich nicht um echtes zivil­ge­sell­schaft­li­ches Enga­ge­ment, sondern um ein vom rus­si­schen Staat ins Leben geru­fe­nes System, das in der „Stra­te­gie zur Umset­zung der Jugend­po­li­tik der Rus­si­schen Föde­ra­tion bis 2030” klar defi­niert ist. Es umfasst zahl­rei­che lokale Zentren, in denen staat­lich beauf­tragte Koordinator:innen erklä­ren, wie man sich zum Frei­wil­li­gen­dienst meldet und mög­lichst viele Punkte auf seinem Konto sammelt.

Darüber hinaus vergibt der rus­si­sche Staat Sti­pen­dien und För­de­run­gen über die staat­li­che Jugend­agen­tur Ros­mo­lod­josch. Offi­zi­ell zielt dies auf die Aus­bil­dung junger Men­schen im Pro­jekt­ma­nage­ment, tat­säch­lich aber handelt es sich um eine Schule der poli­ti­schen Loya­li­tät. Die Teil­neh­men­den lernen den Umgang mit Budgets, Beamten und Ver­wal­tungs­ver­fah­ren – und werden darin geschult, die Ziele der Besat­zungs­macht umzusetzen.

Lehr­gänge für Verwaltungsangestellte

Regel­mä­ßig ent­sen­det die rus­si­sche Regie­rung zudem Expert:innen in die besetz­ten Gebiete. Sie unter­wei­sen Ver­wal­tungs­an­ge­stellte in den lokalen Besat­zungs­be­hör­den darin, wie man „richtig“ Jugend­po­li­tik betreibt und junge Men­schen anwirbt. Ende Mai 2025 nahmen an einem der­ar­ti­gen Seminar im besetz­ten Meli­to­pol 50 Vertreter:innen ver­schie­de­ner Ein­rich­tun­gen teil, die für die rus­si­sche Jugend­po­li­tik in der Region Sapo­rischschja zustän­dig sind. Ziel der Ver­an­stal­tung war es einem Bericht zufolge, „ein­heit­li­che Ansätze für die Ent­wick­lung kom­mu­na­ler Jugend­prak­ti­ken aus­zu­ar­bei­ten, metho­di­sche Unter­stüt­zung zu gewähr­leis­ten und Instru­mente zur Ein­bin­dung junger Men­schen in Pro­zesse der gesell­schaft­li­chen und admi­nis­tra­ti­ven Ent­wick­lung zu überarbeiten”.

Das Seminar in Meli­to­pol war eines von Hun­der­ten, die bereits in den besetz­ten Gebie­ten statt­fan­den. Ein umfas­sen­des System von Anrei­zen lockt junge Men­schen in Ver­wal­tungs­struk­tu­ren, macht sie zu Kollaborateur:innen und über­zeugt sie davon, dass sie die Ukraine nun nicht mehr bräuch­ten, weil sie sie ohnehin ver­ra­ten hätten. Statt­des­sen könnten sie ihre Zukunft in Russ­land auf­bauen, wenn sich der rus­si­schen Regie­rung gegen­über wei­ter­hin loyal verhielten.

Gesell­schaft­li­cher Wider­stand und die Grenzen der Kontrolle

Trotz dieser Zwangs­maß­nah­men hat Russ­land es noch nicht geschafft, die Gesell­schaft in den vor­über­ge­hend besetz­ten Gebie­ten voll­stän­dig unter Kon­trolle zu bringen. Fami­lien bringen ihre Kinder unge­ach­tet aller Schwie­rig­kei­ten wei­ter­hin aus diesen Gebie­ten heraus, unab­hän­gig davon, wie lange sie schon unter rus­si­scher Besat­zung leben.

Als Olek­sandr mit 17 Jahren seine Hei­mat­stadt Donezk verließ, hatte er dies zusam­men mit seinen Eltern ent­schie­den – aber so etwas ist nicht immer der Fall. Junge Men­schen, deren Eltern ihren Wunsch, die besetz­ten Gebiete zu ver­las­sen, nicht unter­stüt­zen, warten oft, bis sie 18 Jahre alt sind. Dann suchen sie selbst nach Frei­wil­li­gen oder Orga­ni­sa­tio­nen, die ihnen bei der Aus­reise helfen, und legen Hun­derte Kilo­me­ter zurück, um über lange Umwege die ukrai­ni­sche Grenze zu über­que­ren und als Ukrainer:innen auf von der Ukraine kon­trol­lier­tem Gebiet leben zu können.

In unserem Podcast sagt Olek­sandr: „Meine Gene­ra­tion hat ihre Kind­heit ver­lo­ren. Und wir wollen, dass man sich daran erin­nert.“ Es ist eine Erin­ne­rung daran, dass die Besat­zung nicht nur mili­tä­ri­scher oder admi­nis­tra­ti­ver Natur ist. Sie ist auch ein sys­te­ma­ti­scher Angriff auf die Iden­ti­tät, das Denken und die Frei­heit jedes ein­zel­nen Menschen.

 

Das Moni­to­ring der Kinder- und Jugend­po­li­tik in den von Russ­land besetz­ten Gebie­ten und der Podcast „Besetzte Gene­ra­tion“ sind ein Koope­ra­ti­ons­pro­jekt der Platt­form für Kon­flikt­be­ar­bei­tung in ukrai­ni­schen Gemein­den („Zentrum für Nah­ost­stu­dien“, „Netz­werk Ver­ant­wort­li­cher“, „Theater des Wandels“). Es wird in Part­ner­schaft mit KURVE Wustrow e. V. im Rahmen des Zivilen Frie­dens­diens­tes gefördert.

Kateryna Suprun

Kateryna Suprun ist Jour­na­lis­tin, Redak­teu­rin und Autorin des Doku­men­tar-Pod­casts „Occu­p­ied Gene­ra­tion“ über ukrai­ni­sche Kinder und Jugend­li­che unter Besatzung.

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