Wolodymyr Jermolenko: Philosoph und Ukraine-Erklärer
Wolodymyr Jermolenko ist nicht nur einer der gefragtesten Publizisten in der Ukraine, wo er bereits mehrfach mit Preisen ausgezeichnet wurde. Er ist auch einer der wichtigsten Ukraine-Erklärer im Ausland. Er zweifelt nicht an dem ukrainischen Sieg gegen Russland, warnt aber, dass die Ukrainer sich nicht zu sehr idealisieren sollten.
Ein kurzer Blick auf die Familiengeschichte von Wolodymyr Jermolenko genügt, um dessen Karriere als Philosoph und Publizist im In- und Ausland nachvollziehen zu können. Sein Vater ist Direktor des Hryhorij Skoworoda Institut für Philosophie der Nationalen Akademie der Wissenschaften, seine Mutter unterrichtet als Dozentin für Philosophie am Kyjiwer Polytechnischen Institut. „Man könnte sagen, ich bin in einer Bibliothek aufgewachsen“, sagt Jermolenko selbst. „Platon, Aristoteles, Dante, Kant, Nietzsche – ihre Bücher haben mich immer begleitet. Sie waren für mich nicht nur Bücher, sondern Freunde.“
Sein erstes Buch schrieb er mit der Hand
Sein erstes philosophisches Werk schrieb der gebürtige Kyjiwer im Alter von 15 Jahren für die „Kleine Wissenschaftsakademie“, die auf talentierte Schüler ausgerichtet ist. Der Titel lautete: „Buddhismus und westliche Kultur“. „Es gab noch keine Computer, ich schrieb es mit der Hand“, erinnert er sich: „Meine Mutter hat das Werk dann abends auf einer Schreibmaschine abgetippt.“ Ein Jahr später begann er sein Studium an der Kyjiw-Mohyla-Akademie, die ihn sehr prägte: „Mohyla schien für mich wie ein absolut unwirklicher Ort, an dem Genies studieren. […] In Mohyla lernte ich Menschen kennen, die man ein Leben lang gesucht hatte, aber nicht finden konnte – und plötzlich sind sie alle an der Fakultät für Geisteswissenschaften […]. Das war eine sehr glückliche Zeit.“
Ukrainisch ist seine erlernte Muttersprache
Zu den Autoren, die bei dem damals jungen Jermolenko großen Eindruck hinterlassen haben, gehörten vor allem Thomas Mann und der Däne Soren Kierkegaard. Es dauerte länger, bis er auch die ukrainische Kultur und Literatur für sich entdeckte, da war er bereits 20 Jahre alt. „Ich bin in einer Familie aufgewachsen, die nicht eng mit der ukrainischen Kultur verbunden war. Aber wäre ich von Kindesbeinen an mit ihr verbunden gewesen, hätte sie für mich vielleicht keine solche Anziehungskraft gehabt und ich hätte sie nicht für mich wiederentdecken wollen“, sagt er. Der heute 43-jährige wuchs in einer russischsprachigen Familie auf, ging auf eine russischsprachige Schule – und obwohl Mohyla eine ukrainischsprachige Universität ist, wurde auch dort in den Pausen viel Russisch gesprochen.
„Ukrainisch ist meine Muttersprache, aber es ist eine erlernte Sprache. Sie ist sowohl ‚organisch‘ als auch ‚konstruiert‘. Und ich denke, das ist die Situation vieler Menschen meiner Generation. Identität ist etwas, das wir in uns selbst aufbauen. Daher ist sie eng mit kritischem Denken verbunden“, sagt Jarmolenko. Seine Frau Tetjana Ogarkowa ist ebenfalls eine bekannte Philosophin und Journalistin. Gemeinsam produzieren die beiden den Podcast „Kult“ über bedeutende Perioden der Weltgeschichte. Erst vor wenigen Jahren beschloss das Paar, Ukrainisch auch privat zu ihrer Hauptsprache zu machen: „Das hängt übrigens mit der Geburt unserer Kinder zusammen. Es war eine bewusste Entscheidung, dass unsere Kinder Ukrainisch sprechen würden. Deshalb ist es für uns einfacher, nach Charkiw, Dnipro oder Odessa zu kommen und dort mit Menschen zu kommunizieren, die die Notwendigkeit dieser Umstellung vielleicht noch nicht so richtig verstehen. Wir sagen ihnen: Wir sind genau wie Ihr, wir sind ebenfalls auf diesem Weg und haben ihn noch nicht ganz geschafft.“
Er leistet freiwillige Hilfe in den befreiten Gebieten
Nach Abschluss der Mohyla-Akademie studierte Jermolenko in Budapest und verteidigte 2011 seine Doktorarbeit in Politikwissenschaften in Paris. Er ist Autor von fünf Büchern, die teilweise mit Preisen ausgezeichnet wurden. Mittlerweile lehrt er selbst an der Mohyla-Akademie. Darüber hinaus ist er eine der bedeutendsten ukrainischen Stimmen im Ausland, beispielsweise als Chefredakteur von UkraineWorld.org, einem multimedialen Projekt, das auf Englisch, aber auch in vier weiteren Sprachen inklusive Deutsch über die Ukraine aufklärt: Auf der Webseite, im Rahmen von mehreren Podcasts, aber auch in den sozialen Medien.
Seit Beginn der russischen Invasion am 24. Februar 2022 reisen Jermolenko und seine Frau Ogarkowa oft in frontnahe oder gerade befreite Gebiete, um freiwillige Hilfe zu leisten und Eindrücke zu sammeln. „Wir haben völlig zerstörte Dörfer gesehen, in denen es überhaupt keine oder nur noch sehr wenige Menschen wohnten. […] Das sind Dörfer, in die die Menschen wahrscheinlich nicht zurückkehren werden. Es gibt fast keine unbeschädigten Gebäude mehr – und je länger der Krieg dauert, desto mehr solcher Dörfer gibt es“, berichtet er. „Wir sollten das Wort Unbesiegbarkeit nicht allzu pathetisch auffassen. Der Krieg macht viele Menschen kaputt. Helden sterben – und diejenigen, die überlebt haben, brechen zusammen.“
„Sie wollten die Ukraine schwächen – sie stärkten sie.“
Für die Zukunft gibt er sich trotzdem zuversichtlich. „Alles, was die Russen tun, widerspricht ihren erklärten Zielen – vielleicht ist dies das größte Paradoxon. […] Sie wollten die NATO von ihren Grenzen verdrängen und haben sie bis an ihre Grenzen herangeführt. Sie wollten die Ukraine schwächen – sie stärkten sie. Sie wollten, dass die Welt die Ukraine vergisst – heute kennen sogar diejenigen die Ukraine, die früher nichts von unserer Existenz wussten“, sagt er.
Wolodymyr Jermolenko und Tetjana Ogarkowa sind sich sicher, dass die Ukraine diesen Krieg gewinnen wird. Sie machen sich aber keine Illusionen, dass die Nachkriegszeit für die ukrainische Gesellschaft leicht sein wird: „Wir sollten uns selbst nicht idealisieren. Wir befinden uns manchmal in einer Art Blindheit, was gefährlich ist. Wir sind auf der guten Seite, die Ukrainer sind großartig. Aber das ist nicht immer der Fall. […] Wenn in unseren sozialen Netzwerken auf unsere eigenen Leute geschossen wird. All diese endlosen Streitereien und Versuche, jemanden „mundtot“ zu machen, ihn moralisch zu vernichten, weil er andere Ansichten vertritt oder etwas tut, womit man nicht einverstanden ist, machen mir große Sorgen. Der Krieg vereint, das stimmt, aber er spaltet auch gewaltig. Und zwar nicht so sehr durch die Ansichten der Menschen, sondern durch ihre Erfahrungen – nicht so sehr durch das, was man denkt, sondern durch das, was man tut, wo man ist. Geografie und Erfahrung spalten. Wenn wir uns auf diesen Krieg aller gegen alle einlassen, […] können wir uns selbst zerstören.“
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