Wie die Ukraine zur Lösung glo­ba­ler Pro­bleme beiträgt

Foto: Andreas Umland

Der rus­sisch-ukrai­ni­sche Krieg ist nur ein destruk­ti­ver Trend in der inter­na­tio­na­len Staa­ten­ord­nung. Doch wird sein Ausgang mit­be­stim­men, in welche Rich­tung sich die Welt entwickelt.

Popu­läre Begriffe wie „Ukraine-Krise” oder „Ukraine-Krieg” ver­lei­ten viele Men­schen zu der Annahme, der rus­sisch-ukrai­ni­sche Krieg sei ein ledig­lich regio­na­les Problem Mit­tel­ost­eu­ro­pas. Dieser Fehl­ein­schät­zung zufolge hätte eine gegen­über Russ­land unter­wür­fi­gere ukrai­ni­sche Führung nicht nur den Krieg ver­mei­den können. Kyjiw könnte angeb­lich noch immer mit Zuge­ständ­nis­sen an Moskau einen dro­hen­den Flä­chen­brand und ein Über­grei­fen des „Krieges in der Ukraine” auf weitere Teile Ost­eu­ro­pas sowie darüber hinaus verhindern.

Aus his­to­ri­scher und ver­glei­chen­der Per­spek­tive betrach­tet, stellt sich der rus­sisch-ukrai­ni­sche Krieg anders dar. Er ist nur eine von meh­re­ren Aus­flüs­sen des heu­ti­gen Mos­kauer Neo­im­pe­ria­lis­mus und ledig­lich ein Aus­druck all­ge­mei­ne­rer regres­si­ver Ent­wick­lun­gen rund um die Welt seit Ende des 20. Jahr­hun­derts. Russ­lands Angriff auf die Ukraine ist eine Wie­der­ho­lung, Aus­prä­gung und Vor­weg­nahme von Patho­lo­gien, die nicht nur Mit­tel­ost­eu­ropa, sondern auch andere Welt­re­gio­nen plagen. Die soge­nannte „Ukraine-Krise“ ist weder ein Ein­zel­fall noch ein lokales Problem. Sie ist weniger ein Aus­lö­ser als ein Symptom grö­ße­rer geo­po­li­ti­scher und völ­ker­recht­li­cher Zer­set­zungs­ten­den­zen der letzten Jahre.

Gleich­zei­tig ist der rus­sisch-ukrai­ni­sche Krieg ein Kampf um die Zukunft Europas. Es geht bei der ukrai­ni­schen Selbst­ver­tei­di­gung um die Auf­recht­erhal­tung des Prin­zips der Unver­schieb­bar­keit von Staats­gren­zen und Unzu­läs­sig­keit solcher derzeit von Russ­land prak­ti­zier­ter Völ­ker­mord­ak­tio­nen, wie die Ver­brin­gung unbe­glei­te­ter Kinder einer eth­ni­schen Gruppe in eine andere. Der Krieg berührt die Inte­gri­tät der gesam­ten nach dem Zweiten Welt­krieg geschaf­fe­nen UN-Staa­ten­ord­nung, da er das Exis­tenz­recht der Ukraine als inte­gra­les Mit­glied der Ver­ein­ten Natio­nen in Frage stellt. Der rus­sisch-ukrai­ni­sche Krieg hat damit nicht nur eine euro­päi­sche, sondern globale Bedeutung.

Russ­lands Krieg ist nur eine Aus­drucks­form grö­ße­rer inter­na­tio­na­len Unord­nung, die auch in Asien, Afrika und Amerika zu beob­ach­ten. Der Verlauf und Ausgang des rus­sisch-ukrai­ni­schen Krieges wird jedoch in beson­de­rem Maße den derzeit all­ge­mei­nen welt­wei­ten Regel­ver­fall ent­we­der beschleu­ni­gen oder aber bremsen. Ein auch nur teil­wei­ser Erfolg Moskaus in der Ukraine würde das Völ­ker­recht sowie die inter­na­tio­nale Ordnung dau­er­haft desta­bi­li­sie­ren und könnte bewaff­nete Kon­flikte sowie Wett­rüs­ten in anderen Regio­nen auslösen.

Eine erfolg­rei­che Ver­tei­di­gung der Ukraine hätte hin­ge­gen in drei­er­lei Hin­sicht posi­tive Aus­wir­kun­gen auf inter­na­tio­nale Sicher­heit, globale Demo­kra­tie und welt­weite Ent­wick­lung. Ein Sieg der Ukraine würde erstens zu einer Sta­bi­li­sie­rung der regel­ba­sier­ten UN-Ordnung führen, die nach 1945 ent­stan­den ist und sich mit der Selbst­zer­stö­rung des Sowjet­blocks nach 1989 gefes­tigt hat. Zwei­tens würde sie eine Wie­der­be­le­bung von Demo­kra­ti­sie­rungs­ten­den­zen rund um die Welt begüns­ti­gen, die seit Beginn des 21. Jahr­hun­derts ins Stocken geraten ist und einen neuen Impuls benö­tigt. Und drit­tens können ukrai­ni­sche Erfah­run­gen in puncto Lan­des­ver­tei­di­gung und Staats­re­form zu glo­ba­ler Inno­va­tion in ver­schie­de­nen Berei­chen bei­tra­gen – von Cyber­si­cher­heit und Droh­nen­an­wen­dung bis hin zur Reform öffent­li­cher Ver­wal­tung von Transformationsstaaten.

Ein ukrai­ni­scher Erfolg würde die Staa­ten­ord­nung stabilisieren

Der rus­sisch-ukrai­ni­sche Krieg ist nur einer von meh­re­ren Ver­su­chen mäch­ti­ger Staaten, nach Ende des Kalten Krieges in ihren jewei­li­gen Regio­nen ihr Herr­schafts­ge­biet zu erwei­tern. Im Zuge einer Wie­der­be­le­bung inter­na­tio­na­ler außen­po­li­ti­scher Praxis vor 1945 ver­su­chen oder planen revi­sio­nis­ti­sche Regie­run­gen, sich unge­be­ten in ihren Nach­bar­län­dern breit zu machen. Daraus resul­tie­rende Mili­tär­ope­ra­tio­nen waren oder sind eher offen­siv, repres­siv und unpro­vo­ziert als defen­siv, huma­ni­tär und prä­ven­tiv. Mehrere revan­chis­ti­sche Auto­kra­tien haben oder sind ver­sucht, das Völ­ker­recht durch das Prinzip der Macht des Stär­ke­ren zu ersetzen.

Ein frühes Bei­spiel aus der Zeit nach dem Kalten Krieg war die Anne­xion Kuwaits durch den Irak im Jahr 1990, die durch die Inter­ven­tion einer inter­na­tio­na­len Koali­tion 1991 rück­gän­gig gemacht wurde. Die 1990er Jahre waren geprägt von den revan­chis­ti­schen Aggres­sio­nen Ser­bi­ens gegen andere ehe­ma­lige jugo­sla­wi­sche Repu­bli­ken, die einst von Belgrad aus regiert wurden. In dieser Zeit begann auch Russ­land mit der Schaf­fung aus Moskau kon­trol­lier­ter sepa­ra­tis­ti­scher „Repu­bli­ken“ in Moldau (d. h. Trans­nis­trien) und Geor­gien (d. h. Abcha­sien und „Süd­os­se­tien“). Gleich­zei­tig unter­drückte Moskau rück­sichts­los die Ent­ste­hung einer unab­hän­gi­gen tsche­tsche­ni­schen Repu­blik auf seinem eigenen Territorium.

Die volle mili­tä­ri­sche Auf­merk­sam­keit des Kremls rich­tete sich erst kürz­lich auf die Ukraine. Ende Februar 2014 okku­pierte Russ­land die süd­ukrai­ni­sche Halb­in­sel Krim und annek­tierte sie sodann. Im Früh­jahr 2014 star­tete Moskau mit teils irre­gu­lä­ren, teils regu­lä­ren Truppen einen Pseu­do­bür­ger­krieg in der Ost­ukraine und schuf so genannte „Volks­re­pu­bli­ken“ in den ost­ukrai­ni­schen Regio­nen Donezk und Luhansk. Acht Jahre später glie­derte Russ­land die ukrai­ni­schen Regio­nen Donezk, Luhansk, Sapo­rischschja und Cherson nach dem Muster der Kri­m­an­ne­xion illegal in sein Staats­ge­biet ein.

Die Reak­tion der inter­na­tio­na­len Gemein­schaft auf die offi­zi­el­len Grenz­re­vi­sio­nen Russ­lands blieb, anders als bei frü­he­ren der­ar­ti­gen Ver­su­chen des Iraks und Ser­bi­ens, halb­her­zig. Die relativ zag­haf­ten Ant­wor­ten des Westens seit 2014 haben das rus­si­sche Aben­teu­rer­tum nur weiter befeu­ert. Moskau fordert inzwi­schen von Kyjiw die frei­wil­lige Abtre­tung aller Teile der vier ukrai­ni­schen Fest­land­re­gio­nen, die Russ­land 2022 annek­tiert hat. Dies umfasst auch einige Teile ukrai­ni­schen Staats­ter­ri­to­ri­ums, welche rus­si­sche Truppen nie erobern konnten. Das Endziel des Kremls ist nach wie vor die Aus­lö­schung der Ukraine als sou­ve­rä­ner Staat und der ukrai­ni­schen Nation als einer von Russ­land unab­hän­gi­gen Kulturgemeinschaft.

Gleich­zei­tig beugt Peking im Süd- und Ost­chi­ne­si­schen Meer eta­blierte Ver­hal­tens­re­geln und ver­stärkt seine Vor­be­rei­tun­gen, die Repu­blik China auf Taiwan mit Gewalt in die Volks­re­pu­blik ein­zu­glie­dern. Vene­zuela hat Gebiets­an­sprü­che gegen­über dem benach­bar­ten Guyana ange­mel­det. Der neu­ge­wählte US-Prä­si­dent Donald Trump hat – schein­bar Putins Bei­spiel folgend – eine ame­ri­ka­ni­sche Anne­xion Kanadas und Grön­lands vor­ge­schla­gen. Etliche revi­sio­nis­ti­sche Poli­ti­ker, Diplo­ma­ten und Stra­te­gen wei­te­rer Länder dürften vor diesem Hin­ter­grund ähn­li­che Expan­si­ons­pläne schmieden.

Die offi­zi­elle Ein­glie­de­rung ukrai­ni­scher Gebiete in das rus­si­sche Staats­ge­biet durch Moskau ist eine beson­ders schwer­wie­gende inter­na­tio­nale Nor­men­ver­let­zung. Die rus­si­schen Anne­xio­nen erfolg­ten durch ein stän­di­ges Mit­glied des UN-Sicher­heits­rats, obwohl dieses Organ 1945 unter anderem geschaf­fen wurde, um solche einst häu­fi­gen Grenz­re­vi­sio­nen zu ver­hin­dern. Das Ver­hal­ten des Kremls ist zudem ange­sichts der Rolle Russ­lands als offi­zi­el­ler Kern­waf­fen- und Depo­si­tar­staat des Nuklea­ren Nicht­ver­brei­tungs­ver­trags (NVV) von 1968 bedenklich.

Mit seinem Versuch, sich ukrai­ni­sche Ter­ri­to­rien ein­zu­ver­lei­ben und die Ukraine als Natio­nal­staat zu zer­stö­ren, per­ver­tiert Russ­land die Funk­tion seines Son­der­sta­tus inner­halb der UN und des NVV. Moskau tritt die aus seiner beson­de­ren Rolle in diesen Insti­tu­tio­nen erwach­sende hohe Ver­ant­wor­tung für die inter­na­tio­nale Nach­kriegs­ord­nung mit Füßen. Der Kreml tut dies zudem unge­schminkt, ja gera­dezu demons­tra­tiv in der Ukraine als einer Grün­dungs­re­pu­blik der UNO und einem Nicht­kern­waf­fen­staat inner­halb des NVV ist. Dies unter­gräbt die nor­ma­ti­ven, poli­ti­schen und psy­cho­lo­gi­schen Grund­la­gen sowohl der Ver­ein­ten Natio­nen als auch des welt­wei­ten nuklea­ren Nicht­ver­brei­tungs­re­gimes. Russ­land hat seine Vor­rechte als stän­di­ges UN-Sicher­heits­rats­mit­glied und offi­zi­el­ler NVV-Kern­waf­fen­staat in Instru­mente ver­wan­delt, um sein – ohnehin bereits rie­si­ges – Staats­ter­ri­to­rium offi­zi­ell aus­zu­wei­ten, ein teils völ­ker­mör­de­ri­sches Umvol­kungs­pro­gramm in den besetz­ten ukrai­ni­schen Gebie­ten umzu­set­zen sowie eine ehe­ma­lige Kolonie des zaris­ti­schen und Sowjet­im­pe­ri­ums auszuradieren.

Ein etwa­iger Sieg der Ukraine über Russ­land wäre daher nicht nur ein regio­na­ler Triumph von Völ­ker­recht und Gerech­tig­keit, sondern ein Ereig­nis von grö­ße­rer Bedeu­tung. Ein ukrai­ni­scher Erfolg könnte zu einem wich­ti­gen Faktor bei der Fes­ti­gung der UN-Nach­kriegs­ord­nung, Ent­wick­lung regel­ba­sier­ter inter­na­tio­na­ler Bezie­hun­gen sowie Abschre­ckung von künf­ti­gem inter­na­tio­na­len Grenz­re­vi­sio­nis­mus werden. Umge­kehrt würde eine Nie­der­lage der Ukraine bezie­hungs­wiese ein unge­rech­ter und Russ­land begüns­ti­gen­der Sieg­frie­den ter­ri­to­ria­len Irre­den­tis­mus rund um die Welt befeu­ern und geno­zi­dale Krieg­füh­rung nor­ma­li­sie­ren. Der ukrai­ni­sche Unab­hän­gig­keits­kampf ist somit sowohl Aus­druck umfas­sen­de­rer Welt­pro­bleme als auch – im Falle eines für Kyjiw erfolg­rei­chen Aus­gangs – ein Instru­ment zu deren Lösung.

Die Ukraine belebt inter­na­tio­nale Demokratisierung

Der Angriff Russ­lands auf die Ukraine ist nicht nur eine von meh­re­ren kürz­li­chen Her­aus­for­de­rung solcher Prin­zi­pien wie natio­nale Sou­ve­rä­ni­tät von Staaten und Unver­schieb­bar­keit von Grenzen. Er ist auch Teil einer wei­te­ren nega­ti­ven glo­ba­len poli­ti­schen Tendenz des frühen 21. Jahr­hun­derts, nämlich einer zuneh­men­den Kon­fron­ta­tion zwi­schen Demo­kra­tie und Auto­kra­tie sowie kürz­li­chen Schwä­chung ers­te­rer. Die Eska­la­tion dieses poli­ti­schen Fun­da­men­tal­kon­flikts mani­fes­tiert sich unter anderem im kon­zer­tier­ten Angriff rus­si­scher, nord­ko­rea­ni­scher, chi­ne­si­scher und ira­ni­scher Anti­de­mo­kra­ten auf den – zumin­dest im ost­eu­ro­päi­schen Kontext – rela­tive libe­ra­len, offenen und plu­ra­lis­ti­schen ukrai­ni­schen Staat.

Ein wich­ti­ger innerer Faktor für Russ­lands Inva­sion der Ukraine ist, dass Putins Kriege seit 1999 als Quellen für die Popu­la­ri­tät, Inte­gri­tät und Legi­ti­mi­tät seiner unde­mo­kra­ti­schen Herr­schaft fun­gier­ten. In Ana­ly­sen der rus­si­schen öffent­li­chen Unter­stüt­zung für Auto­ri­ta­ris­mus wird manch­mal über­se­hen, dass die mili­tä­ri­sche Bestra­fung, Unter­wer­fung und/​oder Unter­drü­ckung von frei­heits­lie­ben­den Völkern wie der Tsche­tsche­nen, Geor­gier und Ukrai­ner, glaubt man Mei­nungs­um­fra­gen, bei vielen ein­fa­chen Russen Rück­halt findet. Die Unter­stüt­zung eines Groß­teils der Bevöl­ke­rung Russ­lands für sieg­rei­che mili­tä­ri­sche Inter­ven­tio­nen – ins­be­son­dere auf dem Ter­ri­to­rium des ehe­ma­li­gen Zaren­reichs und der Sowjet­union – ist eine wich­tige poli­ti­sche Res­source und soziale Basis für Putins zuneh­mend auto­kra­ti­sches und repres­si­ves Regime.

Solche regres­sive Ten­den­zen waren frei­lich bereits in Jelzins halb­de­mo­kra­ti­schem Russ­land der 1990er Jahre zu beob­ach­ten – etwa bei den offi­zi­el­len mili­tä­ri­schen Ein­grif­fen Moskaus in innere Kon­flikte der Repu­bli­ken Moldau 1992 und Tsche­tsche­nien 1994. Unter Putin als Minis­ter­prä­si­dent von 1999–2000 sowie 2008–2012 und bis heute als Prä­si­dent hat die Bru­ta­li­tät der Gewalt­ope­ra­tio­nen Russ­lands zuge­nom­men. Diese Radi­ka­li­sie­rung ist nicht nur eine Folge des eska­lie­ren­den rus­si­schen Irre­den­tis­mus an sich, sondern auch mit den grund­le­gen­den Ver­än­de­run­gen im innen­po­li­ti­schen Regime Russ­lands ver­bun­den. Die zuneh­mende Aggres­si­vi­tät Moskaus im Ausland geht einher mit wach­sen­der Repres­si­vi­tät im Inland nach Putins Macht­über­nahme im August 1999.

Die Feind­se­lig­keit des Kremls gegen­über dem Westen und der Ukraine wuchs nicht zufäl­lig infolge der ukrai­ni­schen anti­au­to­ri­tä­ren Auf­stände von 2004 und 2014. Der sprung­hafte Anstieg rus­si­scher anti­west­li­cher und anti­ukrai­ni­scher Rhe­to­rik hatte viel mit den tri­um­pha­len Siegen der liberal-demo­kra­ti­schen Orange und Euro­mai­dan-Revo­lu­tion in diesen Jahren zu tun. Die innen­po­li­ti­sche Ent­wick­lung der Ukraine stellt nicht nur die neo­im­pe­ria­len Ansprü­che Russ­lands auf die größte ehe­ma­lige Kolonie Moskaus in Frage. Das sich demo­kra­ti­sie­rende ukrai­ni­sche Staats­we­sen ist auch ein kon­zep­tio­nel­les Gegen­mo­dell zum im post­so­wje­ti­schen Raum vor­herr­schen­den auto­ri­tä­ren Staats­mo­dell. Die bloße Exis­tenz der relativ demo­kra­ti­schen Ukraine stellt die Legi­ti­mi­tät der post­kom­mu­nis­ti­schen Auto­kra­tien in Russ­land, Belarus, Aser­bai­dschan und Zen­tral­asien infrage.

Der ukrai­ni­sche Unab­hän­gig­keits­kampf ist daher nicht nur eine Ver­tei­di­gung des Völ­ker­rechts und der inter­na­tio­na­len Ordnung, sondern auch ein Gefecht für die welt­weite Demo­kra­tie. Der der­zei­tige Kon­flikt zwi­schen pro- und anti­de­mo­kra­ti­schen Kräften ist global und hatte sich bereits vor, par­al­lel und unab­hän­gig vom rus­sisch-ukrai­ni­schen Krieg ver­schärft. Gleich­zei­tig ist die Kon­fron­ta­tion zwi­schen der rus­si­schen Auto­kra­tie und der ukrai­ni­schen Demo­kra­tie eine beson­ders epische Schlacht dieser beiden poli­ti­schen Ord­nungs­prin­zi­pien mitten in Europa.

Wenn die Ukraine siegt, gewinnt das inter­na­tio­nale Bündnis der Demo­kra­ten, während die Achse der Auto­kra­ten um Putin ver­liert. In diesem Sze­na­rio werden nicht nur andere Demo­kra­tien siche­rer, selbst­be­wuss­ter und dyna­mi­scher. Es ist wahr­schein­lich, dass auch andere auto­ri­täre Regime ins Wanken kommen – vor allem in Ost­eu­ropa, im Kau­ka­sus und in Zen­tral­asien. Diffusions‑, Spill­over- oder Domi­no­ef­fekte solcher Ver­än­de­run­gen im post­so­wje­ti­schen Raum wie­derum könnten auch anderswo neue Demo­kra­ti­sie­rungs­im­pulse geben.

Umge­kehrt würde ein rus­si­scher mili­tä­ri­scher Triumph oder Sieg­frie­den in der Ukraine auto­kra­ti­sche Regime und anti­de­mo­kra­ti­sche Poli­ti­ker welt­weit ermu­ti­gen. In einem solchen Sze­na­rio würden demo­kra­ti­sche Herr­schafts­for­men und offene Gesell­schaf­ten als schwach, inef­fek­tiv und impo­tent stig­ma­ti­siert werden. Der jüngste welt­weite Nie­der­gang der Demo­kra­tie würde sich nicht umkeh­ren, sondern fort­set­zen und womög­lich beschleu­ni­gen. Die so genannte „Ukraine-Krise“ ist zwar nicht die Ursache für die aktu­el­len Pro­bleme der Demo­kra­tie welt­weit. Ihre gerechte, völ­ker­rechts­kon­forme und dau­er­hafte Lösung würde jedoch die inter­na­tio­nale Demo­kra­ti­sie­rung wiederbeleben.

Die Ukraine ent­wi­ckelt über­trag­bare Innovationen

Ein dritter, bislang unter­schätz­ter Aspekt des Bei­trags Kyjiws zum glo­ba­len Fort­schritt ist die wach­sende Zahl neuer kogni­ti­ver, insti­tu­tio­nel­ler und tech­no­lo­gi­scher Ent­wick­lun­gen in der Ukraine, die auch anderswo Anwen­dung finden können. Bereits vor der Eska­la­tion des rus­sisch-ukrai­ni­schen Krieges im Jahr 2022 leitete Kyjiw innen­po­li­ti­sche Refor­men ein, die auch für die Moder­ni­sie­rung anderer Trans­for­ma­ti­ons­staa­ten rele­vant sind. Nach dem Sieg des Euro­mai­dan-Auf­stands bezie­hungs­weise der „Revo­lu­tion der Würde“ im Februar 2014 begann die Ukraine mit einer grund­le­gen­den Umge­stal­tung der Bezie­hung zwi­schen Staat und Gesellschaft.

Dazu gehörte die Schaf­fung meh­re­rer spe­zi­el­ler Insti­tu­tio­nen zur Bekämp­fung von Kor­rup­tion, dar­un­ter ein Anti­kor­rup­ti­ons­ge­richt und eine Anti­kor­rup­ti­ons­staats­an­walt­schaft sowie eine Kor­rup­ti­ons­prä­ven­ti­ons­be­hörde und ein Ermitt­lungs­büro für Bestechungs­fälle. Das Novum dieser Insti­tu­tio­nen besteht darin, dass sie sich aus­schließ­lich der Ver­hin­de­rung, Auf­de­ckung und Ver­fol­gung von Ver­un­treu­ung, Erschlei­chung und Nepo­tis­mus widmen. Im April 2014 begann die Ukraine darüber hinaus mit einer weit­rei­chen­den Dezen­tra­li­sie­rung ihres öffent­li­chen Ver­wal­tungs­sys­tems, die zu einer umfas­sen Kom­mu­na­li­sie­rung bezie­hungs­weise Muni­zi­pa­li­sie­rung des Landes führte. Die Reform über­trug bedeu­tende Befug­nisse, Finan­zen und Zustän­dig­kei­ten von der regio­na­len und natio­na­len Ebene auf die lokalen Selbst­ver­wal­tungs­or­gane amal­ga­mier­ter Groß­ge­mein­den, die damit zu wich­ti­gen Macht­zen­tren in der Ukraine wurden.

Die Euro­mai­dan-Revo­lu­tion führte auch zu einer Neu­ge­stal­tung der Bezie­hun­gen zwi­schen staat­li­chen und nicht­staat­li­chen Orga­ni­sa­tio­nen. Die frühe unab­hän­gige Ukraine litt, wie auch andere post­so­wje­ti­sche Länder, unter einer Ent­frem­dung zwi­schen Staats­be­am­ten und zivil­ge­sell­schaft­li­chen Akti­vis­ten. Nach dem Sieg der „Revo­lu­tion der Würde“ 2014 begann sich diese Kluft zu schlie­ßen. So ist bei­spiels­weise das Kyjiwer so genannte „Reani­ma­tion Package of Reforms“ eine Koali­tion unab­hän­gi­ger Thinktanks, For­schungs­in­sti­tute und Nicht­re­gie­rungs­or­ga­ni­sa­tio­nen, die in den ver­gan­ge­nen 10 Jahren par­tei­un­ab­hän­gig wich­tige neue Reform­ge­setze für die Wer­chowna Rada (Obers­ter Rat), das Ein­kam­mer­par­la­ment der Ukraine, vor­be­rei­tet hat.

Eben­falls 2014 unter­zeich­ne­ten die Ukraine, Moldau und Geor­gien weit­rei­chende Asso­zi­ie­rungs­ab­kom­men mit der EU, die in dieser Form bislang ein­zig­ar­tig sind. Die drei bila­te­ra­len Mam­mut­pakte gehen weit über ältere Koope­ra­ti­ons­ver­träge der Euro­päi­schen Union mit Nicht­mit­glieds­län­dern hinaus. Sie umfas­sen soge­nannte ver­tiefte und umfas­sende Frei­han­dels­zo­nen zwi­schen der EU und den drei asso­zi­ier­ten post­so­wje­ti­schen Staaten. Seit 2014 inte­grie­ren diese beson­ders großen Asso­zi­ie­rungs­ab­kom­men schritt­weise die ukrai­ni­sche, mol­daui­sche und geor­gi­sche Wirt­schaft in die euro­päi­sche Wirtschaft.

Diese und andere regu­la­to­ri­sche Inno­va­tio­nen, die mit der Ukraine zusam­men­hän­gen oder aus ihr stammen, haben brei­tere nor­ma­tive und poli­ti­sche Bedeu­tung. Sie bieten Reform­vor­la­gen, insti­tu­tio­nelle Modelle und his­to­ri­sche Lehren für andere der­zei­tige und künf­tige Trans­for­ma­ti­ons­län­der, nicht nur im post­so­wje­ti­schen Raum. Die Erfah­run­gen der Ukraine können für ver­schie­dene Natio­nen nütz­lich sein, die einen Wechsel von einer tra­di­tio­nel­len zu einer libe­ra­len Ordnung, von einer kli­en­te­lis­ti­schen zu einer plu­ra­lis­ti­schen Politik, von einer geschlos­se­nen zu einer offenen Gesell­schaft, von einer Olig­ar­chie zu einer Poly­ar­chie, von einer zen­tra­li­sier­ten zu einer dezen­tra­li­sier­ten Herr­schaft und von einer bloßen Zusam­men­ar­beit zu einer tiefen Asso­zi­ie­rung mit der EU anstreben.

Während die post­re­vo­lu­tio­nä­ren Ent­wick­lun­gen der Ukraine vor allem für Trans­for­ma­ti­ons­staa­ten rele­vant sind, dürften ihre jüngs­ten kriegs­be­zo­ge­nen Erfah­run­gen und Inno­va­tio­nen auch für eta­blierte Demo­kra­tien von Inter­esse sein – nicht zuletzt für NATO-Mit­glieds­län­der. Dieses Dif­fu­si­ons­po­ten­zial betrifft sowohl das in der Ukraine gesam­melte Wissen über hybride Bedro­hun­gen und deren Abwehr als auch die zügige tech­no­lo­gi­sche und tak­ti­sche Moder­ni­sie­rung der ukrai­ni­schen Streit- und Sicher­heits­kräfte, die auf dem Schlacht­feld und im Hin­ter­land gegen rus­si­sche Truppen und Agenten kämpfen. Seit 2014 ist die Ukraine – mehr als jedes andere Land der Welt – Ziel mul­ti­va­ria­ter Angriffe Moskaus mit irre­gu­lä­ren und regu­lä­ren Ein­hei­ten, in den Medien und im Cyber­space, in der Innen- sowie Außen­po­li­tik und auf ihre Infra­struk­tur, Wirt­schaft sowie reli­giöse, aka­de­mi­sche, schu­li­sche und weitere Kul­tur­ein­rich­tun­gen geworden.

Seit dem 24. Februar 2022 befin­det sich die Ukraine in einem dra­ma­ti­schen Über­le­bens­kampf gegen einen nomi­nell weit über­le­ge­nen Angrei­fer. Die Regie­rung, Armee und Gesell­schaft der Ukraine mussten sich schnell, fle­xi­bel und gründ­lich auf diese exis­ten­zi­elle Her­aus­for­de­rung ein­stel­len. Dazu gehörte die rasche Ein­füh­rung neuer Waf­fen­ty­pen und ‑anwen­dun­gen, wie bei­spiels­weise einer Viel­zahl ver­schie­de­ner unbe­mann­ter Flug‑, Wasser- und Land­fahr­zeuge sowie deren zuneh­men­der Einsatz mit Hilfe künst­li­cher Intelligenz.

In einer Band­breite mili­tä­ri­scher und dualer Tech­no­lo­gien musste die Ukraine hoch­in­no­va­tiv sein, um dem umfas­sen­den rus­si­schen Angriff stand­hal­ten zu können. In Berei­chen wie etwa Strom­trans­port und ‑spei­che­rung, elek­tro­ni­sche Kom­mu­ni­ka­tion, Infor­ma­ti­ons­prü­fung, Not­fall­me­di­zin, Minen­räu­mung, post­trau­ma­ti­sche Psy­cho­the­ra­pie oder Wie­der­ein­glie­de­rung von Vete­ra­nen hatten die ukrai­ni­sche Regie­rung und Gesell­schaft keine Wahl, als zügig und ent­schlos­sen reagie­ren. Zwar greift die Ukraine häufig auf aus­län­di­sche Erfah­run­gen, Aus­rüs­tung und Aus­bil­dung zurück. Gleich­zei­tig ent­wi­ckelt sie jedoch ständig eigene neu­ar­tige Aus­rüs­tun­gen, Ansätze und Mecha­nis­men, die auch anderswo von Nutzen sein können. Dieses Wissen und diese Erfah­run­gen der Ukraine werden ins­be­son­dere für Länder von Nutzen sein, die mit ähn­li­chen äußeren Her­aus­for­de­run­gen kon­fron­tiert sein könnten.

Die Ukraine als Problemlöser

Viele Beob­ach­ter sehen die Ukraine ledig­lich als Stör­fak­tor für die Auf­recht­erhal­tung bezie­hungs­weise Wie­der­her­stel­lung euro­päi­scher Sicher­heit und inter­na­tio­na­ler Zusam­men­ar­beit. Doch begann der all­ge­meine Anstieg von glo­ba­lem Revan­chis­mus und Auto­ri­ta­ris­mus bereits vor und weit­ge­hend unab­hän­gig von den jüngs­ten dra­ma­ti­schen Ent­wick­lun­gen in der Ukraine. Auch die regio­nale Eska­la­tion des Mos­kauer Neo­im­pe­ria­lis­mus im post­kom­mu­nis­ti­schen Raum im All­ge­mei­nen und die völ­ker­mör­de­ri­sche Obses­sion von Russ­lands Natio­na­lis­ten mit der Ukraine im Beson­de­ren hat wenig mit der ukrai­ni­schen Pro­jek­ti­ons­flä­che solcher rus­si­schen Patho­lo­gien zu tun. Die Ukraine ist – wie Moldau, Geor­gien und andere bedrängte Staaten – ledig­lich ein Opfer und nicht die Ursache wach­sen­der inter­na­tio­na­ler Span­nun­gen und anti­de­mo­kra­ti­scher Trends.

Der rus­si­sche mili­tä­ri­sche Angriff auf die Ukraine seit 2014 hat das bis dahin kaum wahr­ge­nom­mene euro­päi­sche Land – nolens volens – zu einem Brenn­punkt glo­ba­ler regres­si­ver Ten­den­zen gemacht. Die Eska­la­tion der Mos­kauer Attacke zu einer voll­um­fäng­li­chen Inva­sion seit 2022 ver­wan­delte die Ukraine zu einem Schau­platz einer Schlacht um die künf­tige Welt­si­cher­heits­ord­nung, schick­sal­haf­ten Aus­ein­an­der­set­zung zwi­schen Demo­kra­tie und Auto­kra­tie sowie Quelle wich­ti­ger Inno­va­tio­nen mit inter­na­tio­na­lem Dif­fu­si­ons­po­ten­zial. Im Zuge der ukrai­ni­schen Trans­for­ma­tion und Lan­des­ver­tei­di­gung der letzten Jahre gestal­ten Ukrai­ne­rin­nen und Ukrai­ner ihren Staat sowie ihre Wirt­schaft, Armee und Gesell­schaft von Grund auf um. Die aus diesem ukrai­ni­schen Prozess ent­stan­de­nen und ent­ste­hen­den neuen Lösungs­an­sätze, Reform­mo­delle und Schlüs­sel­tech­no­lo­gien dürften für viele Länder rund um die Welt von Inter­esse, ja für einige von lebens­wich­ti­ger Bedeu­tung sein.

Portrait von Andreas Umland

Dr. Andreas Umland ist ist Analyst am Stock­hol­mer Zentrum für Ost­eu­ro­pa­stu­dien (SCEEUS) des Schwe­di­schen Insti­tuts für Inter­na­tio­nale Ange­le­gen­hei­ten (UI).

Ver­wandte Themen

News­let­ter bestellen

Tragen Sie sich in unseren News­let­ter ein und bleiben Sie auf dem Laufenden.

Mit unseren Daten­schutz­be­stim­mun­gen erklä­ren Sie sich einverstanden.