Wenn Lebens­ret­ter zur Ziel­scheibe werden

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Für die ukrai­ni­schen Sani­täts­trup­pen ist der rus­si­sche Angriffs­krieg eine riesige Her­aus­for­de­rung: Dau­er­be­schuss, sys­te­ma­ti­sche Angriffe auf Sani­täts­per­so­nal sowie länger wer­dende Ret­tungs­ket­ten zwingen ihre Sol­da­tin­nen und Sol­da­ten zu Impro­vi­sa­tion und Refor­men. Die Sani­täts­dienste west­li­cher Armeen können viel von ihnen lernen, schreibt Kilian von Sommerfeld.

Mit dem völ­ker­rechts­wid­ri­gen Angriff Russ­lands auf die Ukraine sind Tod und Ver­wun­dung Teil des ukrai­ni­schen Alltags gewor­den. Moderne Waf­fen­sys­teme wirken tief hinter die Front und treffen häufig zivile und medi­zi­ni­sche Ein­rich­tun­gen. Die medi­zi­ni­sche Ver­sor­gung von Ver­wun­de­ten bleibt dadurch frag­men­tiert und anfäl­lig für Angriffe. Bei Kriegs­ver­let­zun­gen domi­nie­ren Explo­si­ons- und Schrapnell­ver­let­zun­gen sowie Ver­bren­nun­gen – vor allem an Gesicht, Armen und Beinen. Beson­ders bei stark blu­ten­den Ver­let­zun­gen zählt jede Sekunde.

Die neuen Her­aus­for­de­run­gen für das Sani­täts­we­sen im rus­sisch-ukrai­ni­schen Krieg ent­ste­hen, weil beide Armeen mas­sen­haft fern­ge­steu­erte Kampf­droh­nen ein­set­zen, deren Reich­weite sich seit der rus­si­schen Voll­in­va­sion 2022 mehr als ver­drei­facht hat. Neu­ar­tige Drohnen, die über ein kilo­me­ter­lan­ges Glas­fa­ser­ka­bel gesteu­ert werden, ope­rie­ren unab­hän­gig von Funk­si­gna­len. Sie können lange in der Luft auf Ziele lauern und sind dabei immun gegen Störsignale.

Eva­ku­ie­run­gen und Ver­wun­de­ten­trans­porte, die in den ersten Monaten der Inva­sion noch unter dem Schutz der Dun­kel­heit möglich waren, sind dadurch inzwi­schen lebens­ge­fähr­lich gewor­den. Mit Wär­me­bild- und Nacht­sicht­tech­nik aus­ge­stat­tete Drohnen machen auch nächt­li­che Eva­ku­ie­run­gen zum töd­li­chen Spieß­ru­ten­lauf. Aus den für die Eva­ku­ie­rung ent­schei­den­den Minuten nach der Ver­wun­dung werden in einem von Drohnen über­sät­tig­ten Schlacht­feld oft mehrere Stunden oder Tage. Die Über­le­bens­chan­cen der Ver­wun­de­ten nehmen dadurch dras­tisch ab.

Unein­heit­li­che Orga­ni­sa­ti­ons­struk­tu­ren behin­dern Schlagkraft

Trotz der Grün­dung eines Medical Force Command nach deut­schem Vorbild bleibt der ukrai­ni­sche Sani­täts­dienst orga­ni­sa­to­risch unein­heit­lich. Zwar ori­en­tiert sich der Aufbau zuneh­mend an NATO-Struk­tu­ren – etwa durch die streit­kräf­te­weite Ein­füh­rung eines eigen­stän­di­gen Unter­of­fi­zier-Korps, das eine zen­trale Rolle in Aus­bil­dung, Dis­zi­plin und ope­ra­ti­vem Führen im Gefecht ein­neh­men soll. Doch diese Refor­men greifen bislang nur begrenzt. Ein wesent­li­cher Grund dafür ist das Fort­be­stehen sowje­tisch gepräg­ter Befehls­hier­ar­chien: Viele Offi­ziere zögern, Ver­ant­wor­tung an Unter­of­fi­ziere zu dele­gie­ren, die sich mit der Truppe an der Front befin­den. Diese Zurück­hal­tung steht im Wider­spruch zum Füh­rungs­prin­zip west­li­cher Armeen, bei dem Ent­schei­dungs­be­fug­nisse bewusst auf untere Ebenen ver­la­gert werden, um in kri­ti­schen Situa­tio­nen schnell und ziel­ge­rich­tet reagie­ren zu können. Wo dies fehlt, ver­lang­samt sich die Ent­schei­dungs­fin­dung – mit unmit­tel­ba­ren Folgen für die Hand­lungs­fä­hig­keit im Gefecht.

Schnelle Hilfe zählt

Die Ret­tungs­kette beginnt am Ort der Ver­wun­dung. In den ersten fünf Minuten sterben rund zwei Drittel der rett­ba­ren Ver­wun­de­ten an unkon­trol­lier­tem Blut­ver­lust. Deshalb sind Selbst- und Kame­ra­den­hilfe ent­schei­dend. Wird das Tour­ni­quet, eine Abbin­de­vor­rich­tung für schwerste Ver­let­zun­gen der Extre­mi­tä­ten, recht­zei­tig ange­legt, kann der impro­vi­sierte Trans­port zum Ver­wun­de­ten­sam­mel­punkt begin­nen – oft über Distan­zen von zehn Kilo­me­tern und mehr. Durch die tech­ni­sche Wei­ter­ent­wick­lung der Droh­nen­sys­teme ver­grö­ßert sich auch der Weg des Ver­wun­de­ten zu einem siche­ren Behandlungsort.

An der Sam­mel­stelle über­nimmt medi­zi­nisch geschul­tes Per­so­nal die Erst­ver­sor­gung. Anschlie­ßend folgt ein wei­te­rer Trans­port – meist über 15 bis 30 Kilo­me­ter – zu einem Sta­bi­li­sie­rungs­punkt mit ärzt­li­cher Betreu­ung. Von dort aus geht es dann weiter in Kran­ken­häu­ser, die nicht selten 50 bis 200 Kilo­me­ter ent­fernt liegen.

Züge mit einer Kapa­zi­tät von bis zu 250 Pati­en­ten über­neh­men einen Groß­teil dieser Trans­porte, ergänzt durch Busse. Die Armee verlegt Pati­en­ten mit beson­ders schwe­ren Ver­let­zun­gen im Ein­zel­fall nach West­eu­ropa zur Weiterbehandlung.

Medi­zi­ni­sche Ver­sor­gung ist kriegsentscheidend

Die Kampf­kraft jeder Armee im Krieg hängt wesent­lich von der medi­zi­ni­schen Reha­bi­li­ta­ti­ons­fä­hig­keit ab. Ange­sichts hoher Ver­wun­de­ten­zah­len und begrenz­ter per­so­nel­ler Reser­ven ist die schnelle Rück­füh­rung gene­se­ner Sol­da­ten kriegsentscheidend.

Der ukrai­ni­sche Staat kann den medi­zi­ni­schen Bedarf dieses Krieges nicht allein decken. Bereits 2014 grün­dete die damals 19-jährige Medi­zin­stu­den­tin Yana Zin­ke­vych das frei­wil­lige Sani­täts­ba­tail­lon Hos­pi­tal­lers. In einer fünf­tä­gi­gen Basis­aus­bil­dung bilden Sani­tä­ter Zivi­lis­tin­nen und Zivi­lis­ten zu Lebens­ret­tern aus, die anschlie­ßend in zwei­wö­chi­gen Rota­tio­nen an der Front ihren Dienst leisten.

Sani­tä­ter im Fadenkreuz

Die bloße Präsenz medi­zi­ni­scher Kräfte stei­gert die Moral der Truppe. Wer weiß, dass im Ernst­fall schnelle Hilfe ver­füg­bar ist, kann seinen Dienst unter extre­mer Belas­tung besser leisten.

Auch die rus­si­sche Armee kennt diesen Zusam­men­hang – und nutzt ihn gezielt aus. Rus­si­sche Streit­kräfte greifen medi­zi­ni­sches Per­so­nal sys­te­ma­tisch an. Sie beschie­ßen Sani­täts­fahr­zeuge direkt oder warten gezielt auf den Moment der Ver­wun­de­ten­auf­nahme – eine als Double-Tap bekannte Taktik. (So gesche­hen etwa im April in Sumy). Für die rus­si­sche Armee spielt es dabei keine Rolle, ob es sich um zivile oder mili­tä­ri­sche Trans­porte handelt.

Das huma­ni­täre Völ­ker­recht und Schutz­zei­chen wie das Rote Kreuz haben in diesem Krieg ihre Schutz­wir­kung ver­lo­ren – im Gegen­teil: Die Schutz­zei­chen werden zu Ziel­schei­ben und ziehen Feuer auf sich. Als Reak­tion setzt die Ukraine ver­stärkt auf Tarnung, gepan­zerte Sani­täts­fahr­zeuge und elek­tro­ni­sche Stör­sys­teme zur Abwehr geg­ne­ri­scher Drohnen. Dennoch bleibt der Preis hoch: Mit rund 30 Prozent Aus­fall­rate zählen die Sani­tä­ter und Sani­tä­te­rin­nen zu den am stärks­ten gefähr­de­ten Kräften im gesam­ten Militär.

Ret­tungs­kräfte schützen

Um Angrif­fen auf Ret­tungs­kräfte ent­ge­gen­zu­wir­ken, haben die ukrai­ni­schen Streit­kräfte erste fern­ge­steu­erte Eva­ku­ie­rungs­ro­bo­ter ent­wi­ckelt. Mit deren Hilfe können Ver­wun­dete vom Schlacht­feld geret­tet werden, ohne dass Sani­täts­per­so­nal sich selbst in Gefahr begeben muss. Aktuell befin­det sich die Tech­no­lo­gie jedoch noch in einem frühen Ent­wick­lungs­sta­dium – ihr tat­säch­li­cher Ein­fluss auf das Kriegs­ge­sche­hen ist noch begrenzt. Dennoch gilt das Konzept als viel­ver­spre­chen­der Schritt hin zu einem siche­re­ren Verwundetentransport.

Im Durch­schnitt greift Russ­land zudem täglich zwei Kran­ken­häu­ser an. Diese Angriffe zielen darauf ab, den Druck auf die zivile und mili­tä­ri­sche Gesund­heits­ver­sor­gung dau­er­haft auf­recht­zu­er­hal­ten – mit dem stra­te­gi­schen Ziel, die Moral der ukrai­ni­schen Bevöl­ke­rung zu brechen. Infolge dieser Bedro­hungs­lage haben die ukrai­ni­schen Ärzte ihre medi­zi­ni­schen Ein­rich­tun­gen – wo möglich – unter die Erde verlegt, um Per­so­nal und Pati­en­ten besser zu schützen.

Sani­täts­ver­sor­gung am Limit

Die medi­zi­ni­sche Ver­sor­gung leidet wei­ter­hin unter einem chro­ni­schen Mangel an Mate­rial und Aus­rüs­tung. Vielen Ein­hei­ten fehlt es an grund­le­gen­den Mitteln zur ersten Hilfe, dar­un­ter funk­ti­ons­tüch­tige Tour­ni­quets und lebens­wich­tige Medi­ka­mente. Um diese Lücken zu schlie­ßen, beschaf­fen sich ein­zelne ukrai­ni­sche Armee­ein­hei­ten eigen­stän­dig Sani­täts­ma­te­rial über Crowd­fun­ding-Initia­ti­ven. Die Qua­li­tät und Ver­füg­bar­keit der gelie­fer­ten Aus­rüs­tung vari­ie­ren dabei erheblich.

Ange­sichts begrenz­ter staat­li­cher Res­sour­cen sind Impro­vi­sa­tion und private Spenden häufig not­wen­dig, um Ver­wun­dete adäquat ver­sor­gen zu können. Feh­lende Stan­dar­di­sie­rung sowie der Mangel an zentral gesteu­er­ter Logis­tik und Mate­ri­al­kon­trolle führen dabei zu Ver­sor­gungs­de­fi­zi­ten, die sich direkt auf die Behand­lungs­qua­li­tät aus­wir­ken. Solange eine sys­te­ma­ti­sche Infra­struk­tur für Beschaf­fung, Ver­tei­lung und Qua­li­täts­prü­fung fehlt, bleibt die sani­täts­dienst­li­che Ver­sor­gung struk­tu­rell anfällig.

Um dies zu ver­bes­sern, müssen das Ver­tei­di­gungs­mi­nis­te­rium, die medi­zi­ni­schen Füh­rungs­ebe­nen und staat­li­che Logis­tik­struk­tu­ren enger zusam­men­ar­bei­ten. Ein Bei­spiel sind min­der­wert ige Tour­ni­quets, die Beschaf­fungs­be­auf­tragte durch Unkennt­nis ohne zen­trale Kon­trolle in den Umlauf bringen.

Spe­zia­li­sierte medi­zi­ni­sche Kon­troll­teams stärken die Qua­li­täts­si­che­rung, und trans­pa­rente, digi­ta­li­sierte Beschaf­fungs­sys­teme wie DOT ermög­li­chen eine zuver­läs­sige und stan­dar­di­sierte Ver­sor­gung. Poli­ti­sche Führung, klare Zustän­dig­kei­ten und eine kon­se­quente Umset­zung sind dafür entscheidend.

Stra­te­gi­sche Lehren für ein kriegs­tüch­ti­ges Gesundheitssystem

Medi­zi­ni­sche Ver­sor­gung ist im Krieg weit mehr als ein huma­ni­tä­res Anlie­gen – sie ist eine stra­te­gi­sche Res­source. Nur ein System, das Men­schen, Mate­rial, Aus­bil­dung und Führung ganz­heit­lich denkt, kann unter per­ma­nen­tem Feind­druck über­le­ben und wirksam handeln.

Trotz großer indi­vi­du­el­ler Ein­satz­be­reit­schaft zeigt sich: Ohne ver­bes­serte Pro­zesse, klarer Ver­ant­wort­lich­kei­ten und echter Inter­ope­ra­bi­li­tät nach NATO-Vorbild bleiben Defi­zite wie das frag­men­tierte Beschaf­fungs­sys­tem bestehen – mit direk­ten Folgen für Ein­satz­fä­hig­keit und Versorgungssicherheit.

Der ukrai­ni­sche Sani­täts­dienst steht dabei aber auch exem­pla­risch für die Resi­li­enz eines Landes, das täglich ums Über­le­ben kämpft. Seit 2014 wurden Aus­bil­dung, Orga­ni­sa­tion und Anpas­sungs­fä­hig­keit kon­ti­nu­ier­lich verbessert.

So sehr, dass mitt­ler­weile auch die NATO von den ukrai­ni­schen Erfah­run­gen pro­fi­tiert und deren Erkennt­nisse in Aus­bil­dungs­kon­zepte über­nimmt. Auch die Bun­des­wehr lernt von diesen Erfah­run­gen – ins­be­son­dere in Bezug auf eine brei­tere sani­täts­dienst­li­che Aus­bil­dung und die Anpas­sung der Ver­wun­de­ten­lo­gis­tik an ein von Drohnen domi­nier­tes Schlachtfeld.

In Zukunft wird viel davon abhän­gen, wie gut es Armeen gelingt, ein kri­sen­fes­tes, lern­fä­hi­ges Sani­täts­sys­tem zu schaf­fen, das der Rea­li­tät moder­ner Kriegs­füh­rung standhält.

Kilian von Som­mer­feld ist Offi­zier­an­wär­ter im Sani­täts­dienst, ziviler Ret­tungs­sa­ni­tä­ter und Ein­satz­sa­ni­tä­ter der Bundeswehr.

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