Deutsch-ukrainische Geschichten einer gemeinsamen Vergangenheit
Wie werden die Ukraine und Deutschland im jeweils anderen Land wahrgenommen? Warum sollten wir unseren Blickwinkel erweitern und vorherrschende Narrative dekonstruieren? Worin besteht die deutsche Verantwortung gegenüber der Ukraine? Renommierte Historikerinnen und Historiker diskutierten diese Fragen beim Cafe Kyiv am 19. Februar 2024 in Berlin.
Bei der Cafe Kyiv-Podiumsdiskussion „Deutsch-ukrainische Geschichten einer gemeinsamen Vergangenheit“ sprach Marieluise Beck (Zentrum Liberale Moderne) mit den Historikerinnen Prof. Dr. Gelinada Grinchenko, Prof. Dr. Jan Claas Behrends und Dr. Franziska Davies über eine Erweiterung der Perspektiven, die notwendige Dekonstruktion russischer Narrative und die deutsche Verantwortung gegenüber der Ukraine.
Die Ukraine als terra incognita
Lange Zeit war die Ukraine für die deutsche Öffentlichkeit ein fernes Land, nahezu eine terra incognita. Sie wurde entweder durch eine „russische Brille“ oder im Zusammenhang mit den Gräueltaten des Zweiten Weltkriegs betrachtet. Heute kommt die Ukraine in den deutschen Medien oft nur bruchstückhaft vor: im Zusammenhang mit dem aktuellen russischen Angriffskrieg und gesellschaftlichen Umwälzungen.
Betonung der eigenständigen Geschichte, Dekonstruktion von imperialistischen Narrativen
Professorin Gelinada Grinchenko, Co-Sprecherin der Deutsch-Ukrainischen Historischen Kommission und Philipp Schwarz Fellow an der Bergischen Universität Wuppertal, und die anderen Teilnehmenden betonten, wie wichtig es sei, die ukrainische Geschichte als eigenständige Geschichte zu sehen – statt prorussische imperialistische Narrative zu wiederholen und die ukrainische Geschichte aus russischer Perspektive zu betrachten.
Es sei notwendig, feststehende Vorstellungen zu dekonstruieren. „Wir müssen unsere eigene Denkweise dekolonisieren und uns mit unserer eigenen Geschichte des Imperialismus auseinandersetzen“, sagte Dr. Franziska Davies von der Ludwig-Maximilians-Universität München.
Lange Geschichte des geistigen und kulturellen Austauschs
Auch die deutsch-ukrainische Geschichte wird aus Sicht der drei Historikerinnen und Historiker verzerrt wahrgenommen. So wichtig es sei, die deutschen Gräueltaten während des Zweiten Weltkriegs zu betrachten und immer wieder darüber zu reden: Die deutsch-ukrainische Geschichte bestehe nicht nur aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs.
Deutschland und die Ukraine blicken auf eine lange Geschichte des geistigen und kulturellen Austauschs, der Migration und der diplomatischen Beziehungen zurück. Die beiden Länder sind sich historisch viel näher, als es heute in der Öffentlichkeit wahrgenommen wird.
„Die Menschen sollten sich auch mit anderen Themen vertraut machen“
Es gebe jenseits des Zweiten Weltkriegs viele andere Aspekte, die untersucht werden, und neue Kapitel, die eröffnet werden sollten. „Wir müssen unsere Perspektiven erweitern, […] die Menschen sollten sich auch mit anderen Themen vertraut machen“, sagte Jan Claas Behrends, Professor an der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder).
Welche kulturellen und intellektuellen Transfers gab es zwischen beiden Ländern? Welche Rolle spielten Migration und Reiseerfahrungen? Gelinada Grinchenko erzählte von den deutschen Siedlern in der Ukraine seit dem 18. Jahrhundert – ein Thema, das heute in der Ukraine populär sei. Auch intellektuelle Transfers und Austausch zwischen Universitäten kam zur Sprache, so zum Beispiel die Forschung der Universität Dnipro zur deutschen Geschichte bzw. den deutsch-ukrainischen Beziehungen.
Sammelband zur deutsch-ukrainischen Geschichte
Um diese in der deutschen Öffentlichkeit weitgehend unbekannten Aspekte der deutsch-ukrainischen Vergangenheit näher zu beleuchten und sie bekannter zu machen, plant das Zentrum Liberale Moderne, im September 2024 einen Sammelband zur gemeinsamen Vergangenheit beider Länder zu veröffentlichen.
Es wird darin auch um die konkreten Erfahrungen von „einfachen Menschen“ gehen. Wie haben sie sich gefühlt? Was haben sie gelernt? Wie zum Beispiel der engagierte deutsche Pfarrer Rolf Haska während des Euromaidan in Kyjiw. Haska hat über seine persönlichen Erfahrungen während der Revolution der Würde einen Beitrag für den geplanten Sammelband verfasst.
Deutschlands heutige Verantwortung
Deutschlands Umgang mit dem Euromaidan 2014 und mit dem russischen Angriffskrieg heute waren auch wichtige Themen der Podiumsdiskussion. Die Teilnehmenden sprachen darüber, dass die deutsche Verantwortung gegenüber der Ukraine sich nicht auf die Zeit des Zweiten Weltkriegs erstrecke. Es müsse untersucht werden, warum Deutschland die Ukraine in den Jahren nach dem Euromaidan nicht stärker unterstützt habe. „Wir müssen Rechenschaft ablegen: zum Beispiel über die Unterstützung von Nord Stream. Und die enge Zusammenarbeit mit Putin war nicht hilfreich“, so Jan Claas Behrends.
Zu Deutschlands heutiger Verantwortung gegenüber der Ukraine betonte Marieluise Beck am Ende der Diskussion: „Lassen Sie unseren Politikern sagen: Es reicht nicht, der Ukraine beizustehen. Wir müssen uns für die Ukraine bewegen.“
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