Trotz Krieg den Rechts­staat verteidigen

Demonstranten halten Plakate während einer Protestaktion gegen den am 22. Juli verabschiedeten Gesetz N12414
Foto: IMAGO /​ Ukr­in­form

Es waren die ersten Pro­teste seit 2022: Mehrere Tausend Men­schen gingen in der ver­gan­ge­nen Woche gegen ein Gesetz auf die Straße, das den Kampf gegen Kor­rup­tion um Jahre zurück­ge­wor­fen hätte. Prä­si­dent Selen­skyj machte dar­auf­hin eine rasche Kehrt­wende. Doch die Folgen der Aus­ein­an­der­set­zung werden bleiben, innen- wie außenpolitisch.

Es sind bemer­kens­werte Wochen für die ukrai­ni­sche Innen­po­li­tik. Sie war stets, vor­sich­tig aus­ge­drückt, sehr dyna­misch – doch nach dem rus­si­schen Groß­an­griff waren innen­po­li­ti­sche Dif­fe­ren­zen erst einmal in den Hin­ter­grund getre­ten. Durch sein ent­schie­de­nes und mutiges Auf­tre­ten zu Beginn des lan­des­wei­ten Krieges hatte Prä­si­dent Wolo­dymyr Selen­skyj zunächst selbst über­zeugte poli­ti­sche Geg­ne­rin­nen und Gegner hinter sich vereint. Doch der Ein­druck, innen­po­li­ti­sche Fragen hätten seitdem keine Rolle mehr gespielt, täuscht. Selbst 2022 gab es innen­po­li­ti­sche Debat­ten, wobei sich Kritik damals nicht in erster Linie gegen Selen­skyj rich­tete, sondern gegen Figuren wie seinen mäch­ti­gen Büro­chef Andrij Jermak.

Spä­tes­tens seit Ende 2023 ist jedoch auch öffent­li­che Kritik am Prä­si­den­ten selbst kein Tabu mehr. Wobei die Aus­ein­an­der­set­zung mit US-Prä­si­dent Donald Trump Selen­skyj innen­po­li­tisch zuletzt noch einmal Aufwind ver­schaffte. Dem Inter­na­tio­na­len Insti­tut für Sozio­lo­gie in Kyjiw zufolge erklär­ten im Juni 65 Prozent der Ukrai­ne­rin­nen und Ukrai­ner, ihrem Prä­si­den­ten zu ver­trauen – eine unge­ach­tet des Krieges enorme Zustim­mungs­rate für ein Land, in dem die Umfra­ge­werte eines Staats­ober­haupts in der Regel rund ein halbes Jahr nach dessen Wahl­sieg abstür­zen. Zudem herrscht in der Gesell­schaft ein breiter Konsens darüber, dass mitten im Krieg unmög­lich Neu­wah­len orga­ni­siert werden können.

Über­ra­schende Proteste

Daran haben auch die Pro­teste gegen Selen­skyj in der ver­gan­ge­nen Woche wenig geän­dert. Sie rich­te­ten sich gegen ein in Rekord­zeit ver­ab­schie­de­tes Gesetz, das die Unab­hän­gig­keit des Natio­na­len Anti­kor­rup­ti­ons­bü­ros (NABU) und der Son­der­staats­an­walt­schaft zur Kor­rup­ti­ons­be­kämp­fung (SAP) ein­schrän­ken und diese Behör­den dem vom Prä­si­den­ten ernann­ten Gene­ral­staats­an­walt unter­stel­len wollte. Zwar besteht der harte Kern der Pro­tes­tie­ren­den aus Ver­tre­te­rin­nen und Ver­tre­tern der poli­tisch aktiven Zivil­ge­sell­schaft, die Selen­skyjs Prä­si­dent­schaft über­wie­gend skep­tisch gegen­über­ste­hen. Doch auch – oder ins­be­son­dere – ihnen ist klar, dass von einem Wechsel im ukrai­ni­schen Prä­si­den­ten­amt derzeit nur einer pro­fi­tie­ren würde: Wla­di­mir Putin.

Nichts­des­to­trotz waren die Pro­teste eine Über­ra­schung. Rund ein­tau­send Men­schen ver­sam­mel­ten sich am ver­gan­ge­nen Diens­tag – dem Tag, an dem das umstrit­tene Gesetz ver­ab­schie­det wurde – in Kyjiw und später auch in anderen Städten, einen Tag darauf waren es bedeu­tend mehr. Offen­bar war Selen­skyj davon aus­ge­gan­gen, die Anti­kor­rup­ti­ons­be­hör­den seien in der Bevöl­ke­rung wenig beliebt und hatte vor allem deren inter­na­tio­nale Strahl­kraft unterschätzt.

Im März 2025 hatte das Ras­um­kow-Zentrum, ein nicht­staat­li­ches Mei­nungs­for­schungs­in­sti­tut, in einer Studie erklärt, 62 Prozent der Bevöl­ke­rung hätten kein Ver­trauen in NABU und SAP. Doch diese Zahlen sind eher Aus­druck einer all­ge­mei­nen Unzu­frie­den­heit der Bevöl­ke­rung mit den Sicher­heits­be­hör­den. Jen­seits eines engen Kreises poli­tisch Enga­gier­ter dürften Insti­tu­tio­nen wie NABU und SAP sowie das Hohe Gericht zur Kor­rup­ti­ons­be­kämp­fung (WAKS) nur den wenigs­ten Men­schen bekannt sein.

Anti-Kor­rup­ti­ons­be­hör­den langsam und ineffektiv

Kritik an der Arbeit dieser Behör­den ist dabei durch­aus berech­tigt. Sie wurden nach der Maidan-Revo­lu­tion 2013/​2014 bewusst als unab­hän­gige Insti­tu­tio­nen gegrün­det, statt sie in das exis­tie­rende Straf­ver­fol­gungs­sys­tem zu inte­grie­ren. Denn dieses System galt nicht nur als von Kor­rup­tion durch­setzt, sondern auch von Agen­tin­nen und Agenten, die für die Rus­si­sche Föde­ra­tion spionierten.

NABU und SAP lei­te­ten nach ihrer Grün­dung mehr­fach Ver­fah­ren gegen hoch­ran­gige Poli­ti­ker ein und es kam zu spek­ta­ku­lä­ren Fest­nah­men. Aber nur wenige Fälle schaff­ten es wirk­lich bis zum finalen Gerichts­pro­zess, geschweige bis zu einer Ver­ur­tei­lung der Straf­tä­ter. Es gibt pro­mi­nente Ver­fah­ren, die sich seit 2016 hin­zie­hen, ohne dass das WAKS je ein recht­kräf­ti­ges Urteil gefällt hätte. Dass die Behör­den zur Kor­rup­ti­ons­be­kämp­fung alles andere als schnell und effek­tiv arbei­ten, ist also offen­sicht­lich. Doch ihre bloße Exis­tenz ist nicht nur ein deut­li­ches Zeichen auf dem Weg der Ukraine in die EU, sondern auch einer der wesent­li­chen Fort­schritte im Kampf gegen Korruption.

Den jetzt Pro­tes­tie­ren­den ging es mit großer Wahr­schein­lich­keit nicht in erster Linie darum, NABU und SAP als Insti­tu­tio­nen zu schüt­zen. Viel­mehr dürfte sie der Schock über die Art und Weise auf die Straße gebracht haben, auf die das neue Gesetz zustande kam: Da wurde ein Gesetz­ent­wurf, in dem es um die Suche nach im Krieg ver­miss­ten Per­so­nen ging, quasi über Nacht umge­schrie­ben, am selben Tag in zwei Lesun­gen durch kaum infor­mierte Abge­ord­nete ver­ab­schie­det und noch am Abend vom Prä­si­den­ten unter­schrie­ben. Das erin­nerte viele nicht nur bitter an die Zeit vor der Maidan-Revo­lu­tion – sondern ganz klar auch an Putins Russland.

Druck aus der EU zeigt Wirkung

Ob es allein der öffent­li­che Protest war, der Wolo­dymyr Selen­skyj so schnell zum Umden­ken bewegte, lässt sich schwer beant­wor­ten. Der Prä­si­dent hat dies in seinen jüngs­ten Auf­trit­ten zumin­dest ange­deu­tet – und tat­säch­lich ist er in seiner poli­ti­schen Kar­riere bisher kaum je so zurück­ge­ru­dert: Bereits einen Tag nach der Ver­ab­schie­dung des umstrit­te­nen Geset­zes kün­digte er an, dieses noch einmal zu über­ar­bei­ten. Den Entwurf, den er dar­auf­hin vor­legte, haben NABU und SAP akzep­tiert, auch der zustän­dige Aus­schuss im Par­la­ment unter­stützte ihn ein­stim­mig. Aus­schlag­ge­bend für die Kehrt­wende des Prä­si­den­ten waren mit Sicher­heit aber auch die klaren Dro­hun­gen aus der EU. Denn jede Kürzung finan­zi­el­ler Hilfe hätte für die Ukraine aktuell kata­stro­phale Folgen.

Unklar bleibt, warum Selen­skyj gerade jetzt auf der Annahme eines Geset­zes bestand, bei dem scharfe Reak­tio­nen aus Brüssel und Berlin zu erwar­ten waren. Der Inlands­ge­heim­dienst SBU hatte die jüngs­ten Durch­su­chun­gen bei NABU-Mit­ar­bei­ten­den mit der „Neu­tra­li­sie­rung rus­si­schen Ein­flus­ses“ begrün­det. Ob es wirk­lich nur das war, was Selen­skyj zu seinem radi­ka­len Schritt bewegt hat, ist frag­lich. Im poli­ti­schen Kyjiw jeden­falls wird neben dem auf­se­hen­er­re­gen­den Kor­rup­ti­ons­ver­fah­ren gegen Ex-Vize­pre­mier Oleksij Tscher­ny­schow über mög­li­che Ermitt­lun­gen gegen Selen­skyjs ehe­ma­li­gen Geschäfts­part­ner Timur Min­dit­sch spe­ku­liert, der Tscher­ny­schow nahe gestan­den haben soll und bis zuletzt großen Ein­fluss unter anderem auf den ukrai­ni­schen Ener­gie­sek­tor hatte.

Egal wie der Kampf um die Unab­hän­gig­keit der Anti-Kor­rup­ti­ons­be­hör­den ausgeht: Er stärkt jene Kri­ti­ke­rin­nen und Kri­ti­ker Selen­skyjs in der Ukraine und im Ausland, die dem ukrai­ni­schen Prä­si­den­ten seit Län­ge­rem auto­ri­täre Ten­den­zen vor­wer­fen. Argu­mente dafür lie­fer­ten zum Bei­spiel recht­lich frag­wür­dige Sank­tio­nen, die im Februar unter anderem gegen den Ex-Prä­si­den­ten und pro­mi­nen­ten poli­ti­schen Gegner Selen­skyjs, Petro Poro­schenko, ver­hängt wurden. Die Aus­ein­an­der­set­zun­gen werden womög­lich auch Aus­wir­kun­gen auf die Arbeit des ukrai­ni­schen Par­la­ments haben, in dem Selen­skyjs Partei „Diener des Volkes“ zwar formell die abso­lute Mehr­heit besitzt, de facto aber längst auf die Stimmen anderer Par­teien ange­wie­sen ist.

Portrait von Denis Trubetskoy

Denis Tru­bets­koy ist in Sewas­to­pol auf der Krim geboren und berich­tet als freier Jour­na­list aus Kyjiw.

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