Selbst­or­ga­ni­sa­tion im Wider­stand: Zivil­ge­sell­schaft­li­ches Enga­ge­ment bei der Ver­tei­di­gung Kyjiws

Foto: Larysa Pylgun, Mykhailo Savva

Die rus­si­sche Voll­in­va­sion mobi­li­sierte die ukrai­ni­sche Zivil­ge­sell­schaft und zeigte, welche Kraft in hori­zon­ta­len Ver­bin­dun­gen und flachen Hier­ar­chien steckt.

Bereits mit Beginn des rus­si­schen Angriffs­kriegs im Jahr 2014 mel­de­ten sich Tau­sende Ukrainer:innen frei­wil­lig zum Mili­tär­dienst. Auch in der Zivil­be­völ­ke­rung orga­ni­sier­ten sich viele Men­schen, um der Armee zu helfen oder ihren Mitbürger:innen zur Seite zu stehen.

Ein Groß­teil dessen, was die Armee benö­tigte, stammte nicht vom Staat, sondern von selbst­or­ga­ni­sier­ten Gruppen. Bald lie­fer­ten diese alles, was eine Armee braucht – außer schwe­rer Waffen. Das breite frei­wil­lige Enga­ge­ment war ein wesent­li­cher Grund dafür, dass Russ­lands Plan, Kyjiw und danach den Rest der Ukraine zu besetz­ten, nicht gelang.

Zusam­men­halt und Selbst­or­ga­ni­sa­tion im Krieg

Unsere Unter­su­chun­gen der letzten drei Jahre bieten Ein­bli­cke in die Struk­tur dieser Gruppen – und sie liefern Auf­schlüsse über die Men­schen, die sie tragen. Wir waren selbst Teil dieses Enga­ge­ments und unter­stütz­ten sowohl Zivilisten:innen als auch die ukrai­ni­sche Armee, während rus­si­sche Truppen auf Kyjiw vor­rück­ten. Unser Zuhause liegt etwas außer­halb von Kyjiw in der Nähe des Vororts Butscha – einem Ort, der im Februar und März 2022 unter rus­si­scher Besat­zung stand und der durch die dort von den Russen began­ge­nen Mas­sa­ker welt­weit trau­rige Berühmt­heit erlangte. Wir wurden Zeug:innen dieser Gräu­el­ta­ten – und zugleich der gegen­sei­ti­gen Hilfe, der Soli­da­ri­tät und der basis­de­mo­kra­ti­schen Orga­ni­sa­tion der ukrai­ni­schen Bevöl­ke­rung. Diese Erfah­run­gen inspi­rierte uns zu dem For­schungs­pro­jekt „Selbst­or­ga­ni­sa­tion und Zusam­men­halt der ukrai­ni­schen Gesell­schaft während des Krieges“, das wir in Zusam­men­ar­beit mit der Ukrai­nian Eva­lua­tion Asso­cia­tion und Stu­die­ren­den aus Kyjiw und Dnipro durchführten.

In den Jahren 2022 und 2023 führten wir mehr als 300 Inter­views mit Men­schen aus unter­schied­li­chen Alters­grup­pen und mit sehr unter­schied­li­chen beruf­li­chen Hin­ter­grün­den. Ergänzt wurden diese durch eine Online-Umfrage unter Ukrainern:innen, die dem ukrai­ni­schen Militär, Bin­nen­ver­trie­be­nen oder Men­schen im Kriegs­ge­biet gehol­fen haben.

Beweg­gründe hinter dem Widerstand

Unsere For­schung zeigt, dass Selbst­or­ga­ni­sa­tion tief in der ukrai­ni­schen Gesell­schaft ver­an­kert ist. Men­schen reagie­ren auf die Zer­stö­rung und das Leid des Krieges, ohne über spe­zi­elle Kennt­nisse, Fähig­kei­ten oder Erfah­run­gen zu ver­fü­gen, unab­hän­gig von Alter, Geschlecht oder wirt­schaft­li­chem Status. Frei­wil­lige Füh­rungs­per­sön­lich­kei­ten mobi­li­sie­ren ihr Umfeld, sammeln Geld, eignen sich neue Fähig­kei­ten an, gründen gemein­nüt­zige Orga­ni­sa­tio­nen oder sogar Unter­neh­men. Eine von uns inter­viewte Öko­no­min begann bei­spiels­weise kugel­si­chere Westen zu her­stel­len. Sie tat dies zunächst aus einem per­sön­li­chen Antrieb heraus: Ihr Bruder hatte keine kugel­si­chere Weste, als er zur Armee ging. Die Schwes­ter eignete sich schnell völlig neue beruf­li­che Fähig­kei­ten an, einfach weil es für sie und ihre Familie wichtig war.

Gene­rell sind die Motive für die Frei­wil­li­gen­ar­beit sehr viel­fäl­tig. Für einige sind es per­sön­li­che Beweg­gründe, wie der Wunsch, Ver­wand­ten oder Freund:innen zu helfen oder die Beset­zung ihrer Hei­mat­stadt zu ver­hin­dern. Für andere sind patrio­ti­sche Werte und der Wille, ihre Frei­hei­ten zu ver­tei­di­gen, das Haupt­mo­tiv. Die Band­breite der Akti­vi­tä­ten reicht von der Her­stel­lung von Kampf­droh­nen bis hin zum Sammeln von Klei­dung für Mili­tär­kran­ken­häu­ser. Frei­wil­lige arbei­ten in solchen Gruppen zusam­men, solange sie ein gemein­sa­mes Ziel haben. Wenn das gemein­same Inter­esse ver­schwin­det, löst sich die Gruppe wieder auf, aber ihre Mit­glie­der arbei­ten in der Regel in neuen Gruppen weiter, um sich anderen Themen zu widmen.

Hori­zon­tale Netzwerke

Nach Beginn der rus­si­schen Voll­in­va­sion wuchsen die hori­zon­ta­len Ver­bin­dun­gen zwi­schen Frei­wil­li­gen­grup­pen rasant. „Wir haben einfach in den sozia­len Medien gepos­tet: ‚Wir haben Inkon­ti­nenz­win­deln.“ Eine andere Gruppe von Frei­wil­li­gen ant­wor­tete dann: „Wo kann ich sie abholen?“ Ein Koor­di­na­tor einer der Gruppen sagte im Inter­view: „Wir sind viele. Und all diese Men­schen haben gleich­zei­tig auf das Problem reagiert. Es fühlte sich an wie Tele­pa­thie.“ Ein anderer Teil­neh­mer unserer Studie betonte: „Wir wurden von Men­schen unter­stützt, die wir am Tag zuvor noch gar nicht kannten.“

Mit zuneh­men­der Erfah­rung lernen die Frei­wil­li­gen, sich zu spe­zia­li­sie­ren, Pro­zesse effek­ti­ver zu gestal­ten, ihre Manage­ment­me­tho­den zu pro­fes­sio­na­li­sie­ren und fun­dierte Ent­schei­dun­gen zu treffen. Ein Koor­di­na­tor einer Stu­den­ten­gruppe aus der Inge­nieurs­fa­kul­tät sagte: „Am Anfang haben wir jedes Problem gesehen und ver­sucht, es zu lösen. Aber dann haben wir uns auf das kon­zen­triert, was wir am besten können. Inzwi­schen stellen wir wie­der­auf­lad­bare Bat­te­rien her.“

Viele Gruppen pro­fes­sio­na­li­sie­ren sich weiter, regis­trie­ren sich als NGOs und knüpfen unter­ein­an­der Netz­werke. Ein Befrag­ter sagte: „Ich nenne es ein sozia­les Netz­werk aus Neu­ro­nen. Wir nutzen eine breite Kon­takt­ba­sis. Nicht jeder kennt jeden per­sön­lich. Aber in jeder Kom­mu­ni­ka­ti­ons­kette gibt es immer Men­schen, die man per­sön­lich kennt und denen man ver­traut. Dieses Netz­werk wird durch gemein­same Werte zusam­men­ge­hal­ten. Es besteht aus fle­xi­blen, mobilen Men­schen, die sich orga­ni­sie­ren und Ver­ant­wor­tung über­neh­men können.“

Die Gruppen unter­stüt­zen ein­an­der emo­tio­nal und prak­tisch.  Sie eta­blie­ren Rituale, um die Grup­pen­iden­ti­tät zu stärken. Viele Frei­wil­lige emp­fin­den ihr Enga­ge­ment als sinn­stif­tend – und als Weg, das Gefühl von Kon­trolle zurück­zu­ge­win­nen. Bei der Lösung gemein­sa­mer Pro­bleme zeigen die Men­schen ihre Hand­lungs­fä­hig­keit: „Ich hatte das drin­gende Bedürf­nis, etwas zu tun. Um zu helfen – um mich selbst zusam­men­zu­hal­ten. Es funk­tio­niert,“ sagt einer unserer Interviewpartner.

Unsicht­bare Held:innen

Führung wird inner­halb der Gruppen meist situa­tiv über­nom­men – ori­en­tiert an den Her­aus­for­de­run­gen, nicht am Status. Selbst Koordinator:innen sehen sich nicht als zen­trale Figuren, sondern als Teil eines grö­ße­ren Ganzen:  “Ich bin nicht das Zentrum – ich bin nur ein kleines Rädchen, das den Men­schen hilft.“

Frei­wil­li­gen­ar­beit basiert in der Regel auf flachen Hier­ar­chien. Ver­trauen ersetzt formale Auto­ri­tät. Auch unter den Bedin­gun­gen des Krieges ist Rechen­schafts­pflicht selbst­ver­ständ­lich – etwa in Form von Foto­be­wei­sen, die zeigen, dass Hilfs­gü­ter an der Front ange­kom­men sind. Drei Jahre nach Beginn der rus­si­schen Voll­in­va­sion betrifft der Krieg fast jede ukrai­ni­sche Familie. Die Men­schen sind zuneh­mend erschöpft. Auch unter den Bedin­gun­gen des Krieges ist Rechen­schafts­pflicht selbst­ver­ständ­lich – etwa in Form von Foto­be­wei­sen auf sozia­len Medien, die zeigen, dass Hilfs­gü­ter an der Front ange­kom­men sind.

Die Ukraine ist ein Land mit einer langen Geschichte des Miss­trau­ens gegen­über zen­tral­staat­li­cher Auto­ri­tät – ob aus Moskau, Wien oder War­schau. Viele Befragte führten diese his­to­ri­sche Erfah­rung als Grund für ihr heu­ti­ges Miss­trauen gegen­über staat­li­chen Struk­tu­ren an.

Doch gerade in der hori­zon­ta­len Selbst­or­ga­ni­sa­tion liegt eine Chance: Sie schafft Ver­trauen, wo der Staat es nicht kann – und stärkt die Resi­li­enz einer Gesell­schaft, die sich seit Jahren gegen einen über­mäch­ti­gen Gegner behauptet.

Larysa Pylgun, Vor­stands­mit­glied der Ukrai­nian Eva­lua­tion Asso­cia­tion, stell­ver­tre­tende Vor­sit­zende des Vor­stands der Exper­ten­gruppe Sova.

Mykhailo Savva, Doktor der Poli­tik­wis­sen­schaf­ten, Pro­fes­sor, Vor­stands­mit­glied der Ukrai­nian Eva­lua­tion Asso­cia­tion, Vor­sit­zen­der des Vor­stands der Exper­ten­gruppe Sova.

Ver­wandte Themen

News­let­ter bestellen

Tragen Sie sich in unseren News­let­ter ein und bleiben Sie auf dem Laufenden.

Mit unseren Daten­schutz­be­stim­mun­gen erklä­ren Sie sich einverstanden.