Selbstorganisation im Widerstand: Zivilgesellschaftliches Engagement bei der Verteidigung Kyjiws

Die russische Vollinvasion mobilisierte die ukrainische Zivilgesellschaft und zeigte, welche Kraft in horizontalen Verbindungen und flachen Hierarchien steckt.
Bereits mit Beginn des russischen Angriffskriegs im Jahr 2014 meldeten sich Tausende Ukrainer:innen freiwillig zum Militärdienst. Auch in der Zivilbevölkerung organisierten sich viele Menschen, um der Armee zu helfen oder ihren Mitbürger:innen zur Seite zu stehen.
Ein Großteil dessen, was die Armee benötigte, stammte nicht vom Staat, sondern von selbstorganisierten Gruppen. Bald lieferten diese alles, was eine Armee braucht – außer schwerer Waffen. Das breite freiwillige Engagement war ein wesentlicher Grund dafür, dass Russlands Plan, Kyjiw und danach den Rest der Ukraine zu besetzten, nicht gelang.
Zusammenhalt und Selbstorganisation im Krieg
Unsere Untersuchungen der letzten drei Jahre bieten Einblicke in die Struktur dieser Gruppen – und sie liefern Aufschlüsse über die Menschen, die sie tragen. Wir waren selbst Teil dieses Engagements und unterstützten sowohl Zivilisten:innen als auch die ukrainische Armee, während russische Truppen auf Kyjiw vorrückten. Unser Zuhause liegt etwas außerhalb von Kyjiw in der Nähe des Vororts Butscha – einem Ort, der im Februar und März 2022 unter russischer Besatzung stand und der durch die dort von den Russen begangenen Massaker weltweit traurige Berühmtheit erlangte. Wir wurden Zeug:innen dieser Gräueltaten – und zugleich der gegenseitigen Hilfe, der Solidarität und der basisdemokratischen Organisation der ukrainischen Bevölkerung. Diese Erfahrungen inspirierte uns zu dem Forschungsprojekt „Selbstorganisation und Zusammenhalt der ukrainischen Gesellschaft während des Krieges“, das wir in Zusammenarbeit mit der Ukrainian Evaluation Association und Studierenden aus Kyjiw und Dnipro durchführten.
In den Jahren 2022 und 2023 führten wir mehr als 300 Interviews mit Menschen aus unterschiedlichen Altersgruppen und mit sehr unterschiedlichen beruflichen Hintergründen. Ergänzt wurden diese durch eine Online-Umfrage unter Ukrainern:innen, die dem ukrainischen Militär, Binnenvertriebenen oder Menschen im Kriegsgebiet geholfen haben.
Beweggründe hinter dem Widerstand
Unsere Forschung zeigt, dass Selbstorganisation tief in der ukrainischen Gesellschaft verankert ist. Menschen reagieren auf die Zerstörung und das Leid des Krieges, ohne über spezielle Kenntnisse, Fähigkeiten oder Erfahrungen zu verfügen, unabhängig von Alter, Geschlecht oder wirtschaftlichem Status. Freiwillige Führungspersönlichkeiten mobilisieren ihr Umfeld, sammeln Geld, eignen sich neue Fähigkeiten an, gründen gemeinnützige Organisationen oder sogar Unternehmen. Eine von uns interviewte Ökonomin begann beispielsweise kugelsichere Westen zu herstellen. Sie tat dies zunächst aus einem persönlichen Antrieb heraus: Ihr Bruder hatte keine kugelsichere Weste, als er zur Armee ging. Die Schwester eignete sich schnell völlig neue berufliche Fähigkeiten an, einfach weil es für sie und ihre Familie wichtig war.
Generell sind die Motive für die Freiwilligenarbeit sehr vielfältig. Für einige sind es persönliche Beweggründe, wie der Wunsch, Verwandten oder Freund:innen zu helfen oder die Besetzung ihrer Heimatstadt zu verhindern. Für andere sind patriotische Werte und der Wille, ihre Freiheiten zu verteidigen, das Hauptmotiv. Die Bandbreite der Aktivitäten reicht von der Herstellung von Kampfdrohnen bis hin zum Sammeln von Kleidung für Militärkrankenhäuser. Freiwillige arbeiten in solchen Gruppen zusammen, solange sie ein gemeinsames Ziel haben. Wenn das gemeinsame Interesse verschwindet, löst sich die Gruppe wieder auf, aber ihre Mitglieder arbeiten in der Regel in neuen Gruppen weiter, um sich anderen Themen zu widmen.
Horizontale Netzwerke
Nach Beginn der russischen Vollinvasion wuchsen die horizontalen Verbindungen zwischen Freiwilligengruppen rasant. „Wir haben einfach in den sozialen Medien gepostet: ‚Wir haben Inkontinenzwindeln.“ Eine andere Gruppe von Freiwilligen antwortete dann: „Wo kann ich sie abholen?“ Ein Koordinator einer der Gruppen sagte im Interview: „Wir sind viele. Und all diese Menschen haben gleichzeitig auf das Problem reagiert. Es fühlte sich an wie Telepathie.“ Ein anderer Teilnehmer unserer Studie betonte: „Wir wurden von Menschen unterstützt, die wir am Tag zuvor noch gar nicht kannten.“
Mit zunehmender Erfahrung lernen die Freiwilligen, sich zu spezialisieren, Prozesse effektiver zu gestalten, ihre Managementmethoden zu professionalisieren und fundierte Entscheidungen zu treffen. Ein Koordinator einer Studentengruppe aus der Ingenieursfakultät sagte: „Am Anfang haben wir jedes Problem gesehen und versucht, es zu lösen. Aber dann haben wir uns auf das konzentriert, was wir am besten können. Inzwischen stellen wir wiederaufladbare Batterien her.“
Viele Gruppen professionalisieren sich weiter, registrieren sich als NGOs und knüpfen untereinander Netzwerke. Ein Befragter sagte: „Ich nenne es ein soziales Netzwerk aus Neuronen. Wir nutzen eine breite Kontaktbasis. Nicht jeder kennt jeden persönlich. Aber in jeder Kommunikationskette gibt es immer Menschen, die man persönlich kennt und denen man vertraut. Dieses Netzwerk wird durch gemeinsame Werte zusammengehalten. Es besteht aus flexiblen, mobilen Menschen, die sich organisieren und Verantwortung übernehmen können.“
Die Gruppen unterstützen einander emotional und praktisch. Sie etablieren Rituale, um die Gruppenidentität zu stärken. Viele Freiwillige empfinden ihr Engagement als sinnstiftend – und als Weg, das Gefühl von Kontrolle zurückzugewinnen. Bei der Lösung gemeinsamer Probleme zeigen die Menschen ihre Handlungsfähigkeit: „Ich hatte das dringende Bedürfnis, etwas zu tun. Um zu helfen – um mich selbst zusammenzuhalten. Es funktioniert,“ sagt einer unserer Interviewpartner.
Unsichtbare Held:innen
Führung wird innerhalb der Gruppen meist situativ übernommen – orientiert an den Herausforderungen, nicht am Status. Selbst Koordinator:innen sehen sich nicht als zentrale Figuren, sondern als Teil eines größeren Ganzen: “Ich bin nicht das Zentrum – ich bin nur ein kleines Rädchen, das den Menschen hilft.“
Freiwilligenarbeit basiert in der Regel auf flachen Hierarchien. Vertrauen ersetzt formale Autorität. Auch unter den Bedingungen des Krieges ist Rechenschaftspflicht selbstverständlich – etwa in Form von Fotobeweisen, die zeigen, dass Hilfsgüter an der Front angekommen sind. Drei Jahre nach Beginn der russischen Vollinvasion betrifft der Krieg fast jede ukrainische Familie. Die Menschen sind zunehmend erschöpft. Auch unter den Bedingungen des Krieges ist Rechenschaftspflicht selbstverständlich – etwa in Form von Fotobeweisen auf sozialen Medien, die zeigen, dass Hilfsgüter an der Front angekommen sind.
Die Ukraine ist ein Land mit einer langen Geschichte des Misstrauens gegenüber zentralstaatlicher Autorität – ob aus Moskau, Wien oder Warschau. Viele Befragte führten diese historische Erfahrung als Grund für ihr heutiges Misstrauen gegenüber staatlichen Strukturen an.
Doch gerade in der horizontalen Selbstorganisation liegt eine Chance: Sie schafft Vertrauen, wo der Staat es nicht kann – und stärkt die Resilienz einer Gesellschaft, die sich seit Jahren gegen einen übermächtigen Gegner behauptet.
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