Braucht die Ukraine ein großes Staatswappen?
Das Ukrainische Staatswappen kennt jeder. Aber um den Dreizack schwelt seit fast 30 Jahren ein politischer Streit um seine „große“ Form. Kann Präsident Selenskyj den lösen?
Die Debatte über das Staatswappen der Ukraine gibt es seit der Wiederherstellung der Unabhängigkeit vor 30 Jahren. Im August 1991 waren die pro-kommunistischen Abgeordneten, die damals die größte Fraktion in der Rada stellten, strikt dagegen, die sowjetische Flagge und das Wappen mit Hammer und Sichel mit der blau-gelben Fahne und dem Dreizack zu ersetzen. Der Beschluss über das Staatswappen wurde deshalb erst am 19. Februar 1992 erlassen.¹ Dieses Dokument war aber Ergebnis eines politischen Kompromisses, weil der Dreizack darin lediglich als „kleines Staatswappen“ festlegt wurde. In diesem Beschluss ist auch von einem großen Staatswappen die Rede, dessen Hauptbestandteil der Dreizack sein sollte.
Am 28. Juni 1996 wurde die Verfassung der Ukraine verabschiedet. Die linken Kräfte im Parlament spielten damals immer noch eine große Rolle, weil man ihre Stimmen für die nötige Zweidrittelmehrheit brauchte.² So geriet die Bestimmung über ein großes Wappen in den Artikel 20 der ukrainischen Verfassung, der die staatlichen Symbole inklusive Fahne, Wappen und Hymne regelt.³ Laut dem Verfassungsartikel müssen Gesetze über diese Symbole mit einer Zweidrittelmehrheit gebilligt werden. Zudem muss die große Wappenvariante sowohl den Dreizack als auch ein Symbol des ukrainischen Kosakenstaates Wijsko Saporiske enthalten.
Aufgrund dieser Bestimmungen kam es im November 1996 zu einem ersten Auswahlverfahren für einen Wappenentwurf. Gewinner wurde damals ein Projekt mit einer Abbildung des Erzengels Michael. Die Variante war aber chancenlos, weil die Kommunisten immer noch viel Einfluss im Parlament hatten.
Ein zweiter Wettbewerb fand 2008 statt, als die zweite Regierung von Julia Tymoschenko das Thema auf die Tagesordnung brachte. Schließlich wurde Mitte 2009 der Entwurf mit einem Kosaken und einem goldenen Löwen von der Regierung abgesegnet und in die Rada eingebracht. Der Gesetzentwurf wurde aber dort nie behandelt.
Im August 2020 hat die ukrainische Regierung unter Denys Schmyhal einen neuen Wettberwerb ausgerufen. Gewinner in dem ungewöhnlich schnellen Verfahren wurde im November 2020 ein umstrittener Entwurf, der die Abbildungen eines Löwen, eines Kosaken und des Erzengels Michael enthielt. Kritiker bemängelten, dass der Entwurf heraldisch nicht korrekt sei sowie veraltetet aussah. Der zuständige Auswahlausschuss leitete dem Autor sämtliche Verbesserungsvorschläge weiter.⁴
Am 28. Juni 2021 hat Wolodymyr Selenskyj einen neuen Gesetzentwurf für das Große Staatswappen in die Rada eingebracht. Überraschend war darin aber nicht der Siegerentwurf von 2020, sondern die von der Regierung Tymoschenko 2009 eingebrachte Version enthalten.⁵ Das Präsidentenbüro hat also die Ergebnisse des Auswahlverfahrens der Regierung Schmyhal einfach ignoriert.
Große Wappen – typisch für Monarchien, aber nicht nur hier
Historisch gibt es große Wappen vor allem in Monarchien. Die größeren Versionen werden typischerweise von Königinnen und Königen für repräsentative Zwecke oder bei Feierlichkeiten genutzt, während Regierungen, Parlamente und Behörden die „kleinen Wappen“ verwenden. Manche Staaten mit republikanischer Rechtsform haben allerdings große Wappen, um ihre Vergangenheit als Monarchien oder staatliche Traditionen zu unterstreichen. So schrieb etwa Bulgarien das „mittlere Wappen“ aus der Zeit der Monarchie mit kleineren Veränderungen 1997 als Staatssymbol in seiner Verfassung fest. Die Kronen in den großen Wappen Georgiens, Polens oder Rumäniens gehören eher zur zweiten Kategorie.
Große Wappen enthalten oft mehrere Symbole. Im Falle von Monarchien sind diese vor allem dynastische. Das große schwedische Wappen etwa besteht aus den Wappen mehrerer königlicher Dynastien, inklusive der regierenden Bernadottes.⁶
Große Wappen von Republiken können nationale Symbole oder regionale Besonderheiten unterstreichen. Zum Beispiel enthält das große Staatswappen Lettlands grünes Eichenlaub als Nationalsymbol, den roten Löwen als Kennzeichen Kurlands sowie den blauen Greif als Wahrzeichen Livlands. Manche föderativen Staaten wie Deutschland, Österreich oder Russland haben jedoch überhaupt kein großes Staatswappen.
Warum braucht ausgerechnet Selenskyj ein großes Wappen?
Selenskyjs Entwurf enthält aber nicht nur Darstellungen des großen Wappens in verschiedenen Fassungen. Das Große Wappen muss auf die Präsidenten-Standarte, auf die Gebäude von Rada, Ministerkabinett, des Obersten Gerichtes sowie auf die offiziellen Briefbögen des Präsidenten angebracht werden. Des Weiteren regelt das Gesetz, wann das größere Wappen angewendet wird sowie Maßnahmen im Falle seiner Verunglimpfung.
Am 24. August, dem Unabhängigkeitstag, hat die Rada in einer außerordentlichen Sitzung den Gesetzentwurf mit 257 Stimmen in erster Lesung angenommen.⁷ Die notwendige absolute Mehrheit von 226 Abgeordneten wurde dabei übertroffen, zur Billigung in zweiter und dritter Lesung braucht es aber eine Zweidrittelmehrheit von 300 Stimmen.
Warum hat ausgerechnet Wolodymyr Selenskyj den Gesetzentwurf eingebracht? Sein Hauptmotiv dürfte sein, sich damit staatsmännisch darzustellen und proukrainische Wählerschichten zu erschließen, wo ihm oft mangelnder Patriotismus vorgeworfen wird. Darum tritt er bei Ansprachen oft mit einem Hintergrundbild auf, das seinem Wappenentwurf ähnelt.
Andererseits will Selenskyj die Handlungsfähigkeit seiner Partei „Diener des Volkes“ demonstrieren, die ja über eine absolute Mehrheit in der Rada verfügt. Deswegen glaubt er offenbar, dass seine Initiative durchkommt. Möglicherweise handelt es sich um einen Versuchsballon, um die Chancen für weitere Verfassungsänderungen, die ebenfalls eine Zweidrittelmehrheit brauchen, zu testen.
Hat das Projekt diesmal eine Chance?
Die Verabschiedung des Wappengesetzes ist aber keine leichte Aufgabe, weil dazu mehr als 40 Stimmen fehlen. Dazu muss die Regierungsfraktion vor allem ihre eigenen 243 Abgeordneten überzeugen.⁸ Es wird aber erwartet, dass einige Abgeordnete von Tymoschenkos Fraktion „Vaterland“ sowie weiterer Gruppen und Fraktionslose, die bei der Sitzung am 24. August nicht dabei waren, bei der entscheidenden Abstimmung mit Ja stimmen werden, so dass eine Mehrheit zu Stande kommt.
Offen ist aber, wie eventuelle Meinungsverschiedenheiten zwischen der Regierungsfraktion und anderer Formationen, die den Entwurf am Unabhängigkeitstag unterstützt haben, das Vorhaben beeinflussen. Die Fraktionen „Europäische Solidarität“ von ex-Präsident Petro Poroschenko und „Holos“ haben bereits angekündigt, dass sie dem Entwurf nicht zustimmen werden.⁹
Eventuell wird Selenskyjs Fraktion versuchen, die notwendigen ja-Stimmen durch Änderungen im bereits in erster Lesung gebilligten Entwurf zu sichern. Sollte das aber scheitern, wäre es ein herber Schlag für Diener des Volkes sowie für Selenskyj persönlich.
Eine andere Möglichkeit wäre, einfach den Status quo beizubehalten. Der Dreizack ist weit bekannt und als Staatswappen allgemein anerkannt. Das Symbol wird auch im Ausland mit der Ukraine assoziiert. Befürwortern dieser Option zufolge ist es kaum nötig, das Wappen durch weitere Kennzeichen zu verwässern.
Ein weiterer Ausweg wäre, einen neuen Entwurf auszuarbeiten und vom Parlament verabschieden zu lassen. Das würde aber eine Lösung der Frage weiter verschieben.
Für ein dritte Variante, die Bestimmungen zum Großen Wappen aus der Verfassung zu streichen und den Dreizack als einziges Staatwappen festzulegen, müsste nicht nur eine parlamentarische Zweidrittelmehrheit, sondern auch eine Volksabstimmung nötig, weil Artikel 20 im ersten Teil der Verfassung steht, der nur per Volksabstimmung geändert werden darf. Zudem droht hier die Gefahr, dass versucht wird, gleich weitere „geschützte“ Verfassungsartikel zu ändern.
Fazit
Mit der Billigung des Wappenentwurfes in erster Lesung ist bereits ein neues Kapitel in der Geschichte der „Wappenfrage“ geschrieben worden. Ein Inkrafttreten des Wappengesetzes muss aber nicht das Ende der Geschichte bedeuten. Seit Jahren wird versucht, die Angelegenheit für politische Zwecke zu missbrauchen. Nach einem Machtwechsel könnte es neue Versuchen geben, das Wappen wieder zu ändern. Die andauernde gesellschaftliche Diskussion sowie die mangelnde Akzeptanz der bisherigen Vorschläge machen das wahrscheinlich.
Wirklich nötig wäre aber nicht ein Wappengesetz, sondern ein Gesetz über die ukrainische Staatsflagge. Diese Aufgabe wäre viel weniger kompliziert, weil die gegenwärtige blau-gelbe Flagge ebenfalls Anfang 1992 durch Parlamentsbeschluss eingeführt wurde.¹⁰ In dem Beschluss fehlen aber Angaben zur richtigen Farbschattierung und zur Art und Weise ihrer Verwendung. Zudem müssen die Nutzung der Flagge durch Privatpersonen sowie Sanktionen für ihre der Verunglimpfung geregelt werden.
¹ Beschluss der Werchowna Rada der Ukraine „Über den Staatswappen der Ukraine“: https://zakon.rada.gov.ua/laws/show/2137–12#Text.
² Das Große Wappen Selenskis wurde noch unter Juschtschenko und Tymoschenko gebilligt: https://www.bbc.com/ukrainian/news-57655715.
³ Verfassung der Ukraine, Art. 20: https://zakon.rada.gov.ua/laws/show/254%D0%BA/96-%D0%B2%D1%80#Text.
⁴ Das Große Wappen: wieso ist es ein politisches Projekt mit zweifelhafter Zukunft: https://www.bbc.com/ukrainian/features-55018815.
⁵ Das Gesetz über das neue Wappen der Ukraine – wozu braucht das Wladimir Selenski und was passiert mit dem Dreizack: https://www.bbc.com/russian/features-58274520.
⁶ Das Wappen Schwedens – Entstehung und Entwicklung: https://www.theheraldrysociety.com/articles/the-coats-of-arms-of-sweden-genesis-and-development/.
⁷ Das Große Wappen: die Rada hat den Gesetzentwurf in erster Lesung unterstützt: https://www.pravda.com.ua/news/2021/08/24/7304845/.
⁸ Fraktionen und Abgeordnetengruppen in der Werchowna Rada der IX. Legislaturperiode: http://w1.c1.rada.gov.ua/pls/site2/p_fractions.
⁹ Das Große Wappen und die Leere: https://www.dsnews.ua/politics/prodelki-dyadyushki-dzho-pochemu-zelenskiy-poboyalsya-delat-rezkie-shagi-v-den-nezavisimosti-24082021–434851.
¹⁰ Beschluss der Werchowna Rada der Ukraine „Über die Staatsflagge der Ukraine“: https://zakon.rada.gov.ua/laws/show/2067–12#Text.
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