Presseschau (26. Oktober bis 8. November)
Saluschnyj vs. Selenskyj: Meinungsverschiedenheiten an der Führungsspitze? +++ Selenskyjs abgesagter Besuch und die Ukraine-Israel-Beziehungen +++ Frauenfeindliche Bemerkung über Soldatinnen in Talkshow sorgt für Empörung
Saluschnyj vs. Selenskyj: Meinungsverschiedenheiten an der Führungsspitze?
In der Ukraine entfacht ein vermeintlicher Dissens zwischen Oberbefehlshaber Walerij Saluschnyj und Präsident Wolodymyr Selenskyj öffentliche Diskussionen. Ausgangspunkt war Saluschnyjs Charakterisierung der Kriegslage als „Stellungskrieg“ im Economist, kurz nachdem TIME kritisch über Selenskyjs Bemühungen um internationale Unterstützung und die nationale Mobilisierung berichtet hatte.
Hromadske beleuchtet die daraus resultierenden Spannungen und zitiert den stellvertretenden Leiter des ukrainischen Präsidialamtes:
„Der stellvertretende Leiter des Präsidialamtes Ihor Schowkwa erklärte, dass derartige Informationen erstens für die Besatzer nützlich seien […] und zweitens Unruhe unter den Partnern der Ukraine stiften könnten. ‚Vielleicht steckt hinter Saluschnyjs Kolumne ein sehr tiefgreifender strategischer Plan, aber wenn ich ehrlich bin, erscheint sie mir doch sehr seltsam‘, fügte Schowkwa hinzu.“
Währenddessen äußert Oleksij Danilow, Sekretär des Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrates, in seiner Kolumne für die Ukrajinska Prawda die Ansicht, dass „Menschen, die nicht an den Sieg [der Ukraine] glauben, keinen Platz in der Regierung und im Oberkommando“ hätten, und skizziert den Wandel des Krieges:
„Russlands Krieg gegen die Ukraine hat einen weltweite Transformationsprozess ausgelöst. Wir sind gezwungen, in Ungewissheit zu leben, ohne klare Prognosen zum Kriegsverlauf, zur Wirksamkeit der Sanktionen oder zur Effizienz der internationalen Sicherheitsmechanismen. Die Ukraine und die Welt sind mit einer grundlegend neuen Art der Kriegsführung konfrontiert – einer bizarren Mischung aus Kämpfen in Schützengräben und digitalen Technologien, multipliziert mit der rasanten Dynamik des Wandels.
Der Krieg im Jahr 2023 ist ein grundlegend anderer als der im Jahr 2022. Die Ukraine ist in diesem Jahr ein völlig anderes Land als im vergangenen Jahr. Die ukrainischen Verteidigungsstreitkräfte sind heute eine qualitativ andere Armee als gestern. Es kommt auf die Geschwindigkeit des Wandels an, und derjenige, der mutiger, kreativer und innovativer ist, gewinnt.
Die Geschichte hat bewiesen, dass freie Gesellschaften Fortschritte machen und Sklavenstaaten nicht mithalten können.“
Petro Burkowskyj, Leiter der Denkfabrik Demokratische Initiativen, hingegen verteidigt Saluschnyj in seiner Kolumne für NV:
„Der Oberbefehlshaber hat zugegeben, dass wir nicht alle für 2023 gesetzten militärischen und politischen Ziele erreicht haben, und er räumt ein, dass bestimmte Fehler gemacht wurden. Aber er hat auch deutlich gemacht, dass die ukrainische Militärführung einen Plan hat, wie man Russland weiter bekämpfen kann. Dass das Geld, das aus dem Haushalt der Vereinigten Staaten und der Europäischen Union in die Ukraine investiert wird, nicht vergeudet wird, nicht verloren ist, sondern erstens der Ukraine hilft, das nächste Jahr zu überleben und zweitens Vorbereitungen für die zukünftige Befreiung aller Gebiete zu treffen, das heißt bis 2025, möglicherweise darüber hinaus. […] Es ist entscheidend, dass unsere Verbündeten unsere Politik und Kriegsstrategie verstehen.“
Selenskyjs abgesagter Besuch und die Ukraine-Israel-Beziehungen
Am 7. November wurde bekannt, dass ein für diesen Tag geplanter Besuch von Präsident Selenskyj in Israel aufgrund eines Leaks abgesagt werden musste. Ukrainische Medien nahmen dies zum Anlass, die moralische und strategische Richtigkeit eines Schulterschlusses mit Israel zu diskutieren.
Sergij Sydorenko, Chefredakteur der mit der Ukrajinska Prawda verbundenen Jewropejska Prawda, hält einen möglichen Besuch Selenskyjs in Israel zum jetzigen Zeitpunkt für einen Fehler und schreibt:
„Dieser Besuch von Selenskyj wird nichts an der grundsätzlichen Position der israelischen Regierung ändern, der Ukraine keine Waffen zu liefern. Auch nicht nach dem Ausscheiden Netanjahus aus dem Amt. Israel benötigt in naher Zukunft selbst Waffen, insbesondere Luftabwehrsysteme, an denen die Ukraine am meisten interessiert ist.
Der Besuch wird auch nicht dazu beitragen, die Haltung der USA (der einzigen Großmacht, die nach wie vor ein fester Verbündeter der israelischen Regierung ist) zur Unterstützung Kyjiws zu ändern. Die Argumente der Ukraineskeptiker in Washington sind andere: Sie fordern von Kyjiw Reformen und eine Rechenschaftspflicht, nicht aber eine Änderung der Außenpolitik.
Wie kam es also dazu, dass Selenskyj beschloss, Israel zu besuchen? Vielleicht ist die einzig mögliche Erklärung seine Emotion. Das heißt, seine emotionale Unterstützung Israels, aus der Wolodymyr Selenskyj keinen Hehl macht. [...] Emotionen sind jedoch generell schlechte Ratgeber in der Außenpolitik.“
Die Website LB dagegen verteidigt den geplanten Besuch und hält die Unterstützung Israels für die beste Option für die Ukraine:
„Die Hamas-Terroristen haben ihre Infrastruktur absichtlich inmitten von Wohngebieten errichtet, um Zivilisten als Schutzschilde zu benutzen. Heute gibt es im Gazastreifen und in seiner Umgebung enorme Zerstörungen. Das ist die Wahrheit. Aber der andere Teil der Wahrheit ist, dass der Wiederaufbau sehr viel Geld kosten wird. Denn wenn die Hamas zerstört ist, wird der Gazastreifen nicht nur wieder aufgebaut, sondern auch seine Infrastruktur völlig neugestaltet. Genauso wie die zerstörten israelischen Kibbuzim und Städte wieder zum Leben erweckt werden.
Was bedeutet das? Dass die Welt ein weiteres Gebiet haben wird, das erhebliche Finanzmittel benötigt. Für die Ukraine wird es schwieriger werden, sich um entsprechende Programme und Ressourcen zu bewerben. […] Die Ukraine kann zum Rivalen Israels werden. Oder umgekehrt – zu einem Partner. Und gemeinsam können wir um angemessene Hilfspakete der USA und ihrer Verbündeten kämpfen.“
Die Außenpolitikexpertin Marija Solkina vertritt in ihrer Kolumne für Liga.net die Ansicht, die Ukraine solle auch in Bezug auf den Krieg im Nahen Osten die Normen des Völkerrechts unterstützen:
„Selbst unsere Verbündeten (die USA, Großbritannien und die europäischen Länder) sind von der Rhetorik ‚Israel hat das Recht, alle Mittel anzuwenden‘, wie Blinken bei seiner ersten Reise nach Katar sehr deutlich gesagt hat, zu ‚Wir müssen die humanitären Folgen und die zivilen Opfer berücksichtigen‘ übergegangen.
Um die Errungenschaften dieses und des letzten Jahres im Nahen Osten zu bewahren, sollte die Ukraine die Idee der Zweistaatenlösung (die übrigens unsere offizielle Position ist) und die Vermeidung von massiven Opfern unter der Zivilbevölkerung aktiver betonen. […] Die Ukraine ist selbst Opfer einer Aggression. Per definitionem können wir Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht nicht unterstützen.“
Frauenfeindliche Bemerkung über Soldatinnen in Talkshow sorgt für Empörung
Der ukrainische Militärangehörige und ehemalige Komiker Wiktor Rosowij verglich in einer Talkshow die Rolle von Frauen bei der Verteidigung des Landes mit der von Hunden: Die kämpfenden Frauen und Hunde müsse man streicheln – und auch den kämpfenden Kindern applaudieren. Diese Äußerung löste in der Ukraine Empörung aus.
Das Nachrichtenportal TSN zitiert aus einer Erklärung der führenden ukrainischen feministischen Organisation Gender in Detail:
„Wir erinnern daran, dass derzeit über 40.000 Frauen in der Armee dienen. Die Zahl der Frauen und Mädchen, die sich als zivile Freiwillige betätigen, ist noch unbekannt. Seit 2018 kämpfen Soldatinnen und Veteraninnen im Rahmen der Kampagne ‚Unsichtbares Bataillon‘ dafür, dass Frauen in Kampfpositionen dienen dürfen! Und jetzt wird ihnen gesagt, wo ihr Platz sei: in den Büros, in den Lagerhallen, auf Verwaltungsposten. Haben die Soldaten des dritten Sturmbataillons, die Frauen mit Kindern und Hunden vergleichen, überhaupt eine Ahnung davon, dass sie damit diejenigen beleidigen, die direkt am Kampfgeschehen beteiligt sind? Diejenigen, die das Leben der Verwundeten retten?“
Der Fernsehsender Kyiv24 interviewte eine Bataillonskameradin von Rosowij, die Soldatin Wiktoria. Sie sagt:
„Es gibt schwarzen Humor in der Armee, das ist alles toll. [...] Aber wenn es in die Öffentlichkeit gebracht wird, ist es als sensibles und unangemessenes Thema zu sehen.“
Gefördert durch:
Ukrainische Medien
Die Online-Zeitung Ukrajinska Prawda veröffentlicht als regierungskritisches Medium investigative Artikel und deckte auch Korruptionsfälle innerhalb der ukrainischen Regierung auf. Sie zählt zu den meistgenutzten Nachrichtenportalen der Ukraine.
Die Ukrajinska Prawda wurde im Jahr 2000 vom ukrainisch-georgischen Journalisten Heorhij Gongadse gegründet, der im darauffolgenden Jahr – angeblich auf Veranlassung des damaligen Präsidenten Leonid Kutschma – ermordet wurde. Die heutige Chefredakteurin ist die bekannte ukrainisch-krimtatarische Journalistin Sevgil Musaieva.
Im Mai 2021 verkaufte die damalige Eigentümerin Olena Prytula 100 Prozent der Anteile an Dragon Capital, eine ukrainische Investment-Management-Gesellschaft, die vom tschechischen Unternehmer Tomáš Fiala geleitet wird.
Aufrufe der Website im Mai 2023: 69,6 Millionen
Das Online-Nachrichtenportal und ‑Fernsehen Hromadske finanziert sich über Crowdfunding bei seinen Leserinnen und Lesern, Spenden, Werbung und über für andere Medien aufgenommene Videos.
Hromadske wurde als NGO mit dazugehörigen Online-Medien im November 2013 mit Beginn des Euromaidan gegründet. Die jetzige Chefredakteurin ist die ukrainische Journalistin Jewhenija Motorewska, die sich zuvor mit dem Thema Korruption in ukrainischen Strafverfolgungsbehörden befasst hat.
Die Weiterentwicklung von Hromadske wird von einem Vorstand vorangetrieben, der aus sieben prominenten ukrainischen Persönlichkeiten besteht, darunter Nobelpreisträgerin Oleksandra Matwijtschuk.
Aufrufe der Website im Mai 2023: 2,8 Millionen
Der ukrainische Fernsehsender mit Online-Nachrichtenportal, dessen Chefredakteurin die ukrainische Journalistin Chrystyna Hawryljuk ist, wird finanziell von der ukrainischen Regierung unterstützt. In diesem Zusammenhang hat sich die Website einer ausgewogenen Berichterstattung verpflichtet.
Das renommierte Institute of Mass Information führte Suspilne.Novyny im September 2021 auf der sogenannten „weißen Liste“ ukrainischer Medien, die ein sehr hohes Niveau an zuverlässigen Informationen bieten.
Suspilne.Novyny wurde im Dezember 2019 gegründet und gehört zur Nationalen öffentlichen Rundfunkgesellschaft der Ukraine. Im Januar 2015 war die zuvor staatliche Rundfunkanstalt entsprechend europäischen Standards in eine öffentliche Rundfunkgesellschaft umgewandelt worden.
Aufrufe der Website im Mai 2023: 7,4 Millionen
NV ist eine Print- und Online-Zeitschrift, deren Schwerpunkt auf Nachrichten aus dem Ausland und der ukrainischen Politik liegt. Zu den Hauptthemen zählen die internationale Unterstützung der Ukraine, Korruption sowie die künftige Entwicklung des Landes. Die Online-Ausgabe veröffentlich oft Artikel renommierter ausländischer Medien wie The Economist, The New York Times, BBC und Deutsche Welle. Die Zeitschrift erscheint freitags als Druckausgabe auf Ukrainisch, die Website ist auf Ukrainisch, Russisch und Englisch verfügbar. NV gilt als eine der zuverlässigsten Nachrichtenquellen in der Ukraine.
NV wurde im Jahr 2014 – ursprünglich unter dem Namen Nowjoe Wremja („Die neue Zeit“) – vom ukrainischen Journalisten Witalij Sytsch gegründet, der die Chefredaktion übernahm. Zuvor arbeitete Sytsch bei dem ebenfalls populären Magazin Korrespondent. Er verließ Korrespondent, nachdem es an Serhij Kurtschenko – einen Janukowytsch nahestehenden Oligarchen aus Charkiw – verkauft worden war. NV gehört zum Verlagshaus Media-DK, dessen Eigentümer der tschechische Unternehmer Tomáš Fiala ist.
Aufrufe der Website im Mai 2023: 27,1 Millionen
Dserkalo Tyschnja liefert Hintergrundberichte und Analysen; das Themenspektrum umfasst politische, wirtschaftliche, soziale und kulturelle Themen. Die Zeitung betrachtet die ukrainische Politik und deren Akteure in einem internationalen Zusammenhang. Dserkalo Tyschnja steht auf der „weißen Liste“ ukrainischer Medien, die zuverlässige Informationen liefern.
Dserkalo Tyschnja ist eine der ältesten ukrainischen Zeitungen und erschien zuerst 1994. Seit 2020 ist die Zeitung nur noch online verfügbar: auf Ukrainisch, Russisch und Englisch. Chefredakteurin ist die bekannte ukrainische Journalistin Julija Mostowa, Ehefrau des ehemaligen ukrainischen Verteidigungsministers Anatolij Hrysenko.
Aufrufe der Website im Mai 2023: 4,7 Millionen
Das ukrainische Online-Magazin Babel wurde im September 2018 gegründet. Das Themenspektrum umfasst soziale und politische Themen; besonderes Augenmerk gilt aber auch Nachrichten aus der Wissenschaft und über neue Technologien.
Nach dem 24. Februar 2022 wurde die zuvor ebenfalls angebotene russische Version der Website geschlossen. Stattdessen wird nun eine englische Version angeboten. Babel finanziert sich über Spenden. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Babel engagieren sich in zahlreichen Projekten, die darauf abzielen, die ukrainischen Streitkräfte während des Krieges zu unterstützen.
Die Eigentümer des Online-Magazins sind der erste Chefredakteur Hlib Husjew, Kateryna Kobernyk und das slowakische Unternehmen IG GmbH.
Heute ist die ukrainische Journalistin Kateryna Kobernyk Chefredakteurin von Babel.
Aufrufe der Website im Mai 2023: 1,1 Millionen
Das Online-Magazin LB gehört zum Horschenin-Institut, einer ukrainischen Denkfabrik, die sich mit politischen und gesellschaftlichen Prozessen in der Ukraine und der Welt beschäftigt. LB hat sich auf Interviews spezialisiert; häufige Themen sind die ukrainische Innen- und internationale Politik sowie soziale Fragen in der Ukraine.
LB wurde im Juni 2009 unter dem Namen Liwyj Bereh gegründet, Chefredakteurin Sonja Koschkina hat seit 2018 einen eigenen Youtube-Kanal „KishkiNA“, auf dem sie Interviews mit verschiedenen Personen veröffentlicht.
Aufrufe der Website im Mai 2023: 2 Millionen
Im Fokus des ukrainischen im Jahr 2000 gegründeten Online-Nachrichtenportals LIGA stehen wirtschaftliche, politische und soziale Themen. Seit 2020 steht LIGA auf der „weißen Liste“ ukrainischer Medien, die stets präzise Informationen und zuverlässige Nachrichten anbieten.
Chefredakteurin ist die ukrainische Journalistin Julija Bankowa, die davor eine leitende Position bei dem Online-Magazin Hromadske hatte.
Der Eigentümer des Nachrichtenportals ist die ukrainische unabhängige Mediaholding Ligamedia, deren Geschäftsführer Dmytro Bondarenko ist.
Aufrufe der Website im Mai 2023: 8,5 Millionen
Censor präsentiert sich als Website mit „emotionalen Nachrichten“. Der Fokus liegt vor allem auf innenpolitischen Entwicklungen. Seit dem russischen Überfall auf die Ukraine sind viele Beiträge den Ereignissen an der Front und den ukrainischen Streitkräften gewidmet. Censor ist auf drei Sprachen verfügbar: Ukrainisch, Russisch und Englisch.
Das Nachrichtenportal Censor wurde 2004 vom bekannten ukrainischen Journalisten Jurij Butusow gegründet und zählt zu den populärsten Nachrichtenseiten des Landes. Butusow gilt als scharfer Kritiker von Präsident Selenskyj. Er erhebt schwere Vorwürfe in Bezug auf Korruption innerhalb der ukrainischen Regierung, schlechte Vorbereitung auf den Krieg gegen Russland und unbefriedigende Verwaltung der Armee. Butusow wird von über 400.000 Menschen auf Facebook gelesen. Seine Posts auf dem sozialen Netzwerk haben enormen Einfluss und lösen hitzige Diskussionen aus.
Aufrufe der Website im Mai 2023: 59 Millionen
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