Presseschau (17. bis 30. August 2023)
Befreiung von Robotyne: kleiner Erfolg oder strategischer Meilenstein? +++ Korruption ist „Hochverrat“? Wie wirksam ist Selenskyjs neuer Vorschlag? +++ Neue Erkenntnisse im „Winterjacken-Skandal“ +++ Kriegsfolgen: die Psyche der Ukrainer im langen Krieg
Befreiung von Robotyne: kleiner Erfolg oder strategischer Meilenstein?
Nach langen und harten Kämpfen verkündete die ukrainische Regierung zu Wochenbeginn die Befreiung des Dorfes Robotyne an der Südfront. Ukrainische Kommentatoren legen bei der Bewertung dieses Vorstoßes unterschiedliche Schwerpunkte.
In einem Interview mit NV analysiert der bekannte ukrainische Militärexperte Jewhen Dykyj die aktuellen Entwicklungen an der Front nüchtern:
„Ich würde nicht von Durchbrüchen an der Frontlinie sprechen. […] Es gibt eine gestaffelte Verteidigung mit drei Hauptlinien und vielen weiteren Hilfslinien. […] Eine dieser drei Linien – über einen sehr breiten Frontabschnitt von mindestens 40 Kilometern – kann schon als vollständig überwunden betrachtet werden. […] Man kann aber nicht sagen, dass die zweite Linie bereits durchbrochen wurde. […] Derzeit konzentrieren sich die Kämpfe dort. […] Der Zusammenbruch der russischen Front ist keineswegs garantiert. Die entscheidende Phase unserer Sommeroffensive hat begonnen […], insbesondere mit den Gefechten bei Werbowe und Nowoseliwka. Sie leiten die bedeutende Schlacht um Tokmak ein, welche für unsere Sommeroffensive ausschlaggebend sein könnte.“
Der Militäranalyst Oleksandr Solonko unterstreicht in einem Gastbeitrag für LIGA die beträchtlichen Hindernisse, die bei der Befreiung der von Russland völkerrechtswidrig besetzten Gebiete im Süden des Landes überwunden werden müssen:
„Es gibt ein ganzes System von Schützengräben, Unterständen und an manchen Stellen sogar richtige Tunnel. […] Panzerabwehrgräben und Minenfelder erstrecken sich über die Felder. […] Was nicht ausgehoben wird, wird vermint. […] Die Schlaumeier, die meinen, die ukrainischen Streitkräfte hätten zu lange gebraucht, um die Russen aus Robotyne zu vertreiben, haben das Verteidigungssystem nicht gesehen, das überwunden werden musste, um die Russen von der Straße nach Mariupol abzudrängen und um sich dem Dorf zu nähern, es zu umzingeln und einzunehmen. Eine kolossale Leistung.“
Wie wirksam ist Selenskyjs „Hochverratsplan“ gegen Korruption?
Am 27. August gab Präsident Selenskyj seine Absicht bekannt, während des aktuell verhängten Kriegsrechts Korruption mit Hochverrat gleichzustellen. Ein entsprechender Vorschlag soll der Werchowna Rada kommende Woche vorgelegt werden. Laut Medienberichten soll das Gesetz nicht nur dem Nationalen Antikorruptionsbüro, sondern auch dem Inlandsgeheimdienst der Ukraine (SBU) Untersuchungsbefugnisse in Korruptionsfällen über 24 Millionen Hrywnja (etwa 600.000 Euro) gewähren. Federführend bei der Ausarbeitung des Entwurfs soll laut Medienberichten Oleh Tatarow, stellvertretender Leiter des Präsidialamtes, gewesen sein. Das Vorhaben zieht massive Kritik auf sich.
Der Entschluss werde das Problem der Korruption in der Ukraine nicht lösen, kommentiert der Politologe Oleksij Koschel bei NV:
„Die ukrainische Regierung versucht oft, ein Problem auf einen Schlag zu lösen, mit einem Knopfdruck, mit einer Entscheidung. Das ist nicht möglich. So funktioniert es einfach nicht. Ein so ernstes Problem kann nicht mit einem Gesetzentwurf des Präsidenten gelöst werden […], sondern systematisch. Es geht um eine Reform der Gerichte, der Rekrutierungsbüros, der Militärmedizinischen Kommissionen. Und auch um eine Reform des Zolls.“
Auch Andrij Osadtschuk, stellvertretender Leiter des Parlamentsausschusses für Strafverfolgung, steht dem Vorschlag Selenskyjs, den er gegenüber LIGA als „Medienhype“ bezeichnet, kritisch gegenüber:
„Anstatt die harte Arbeit der Korruptionsprävention zu erledigen – normale Berichterstattung, transparente Ausschreibungsverfahren – kommt der Präsident daher und spricht von der Gleichsetzung mit Hochverrat. Welches Gesetz sie auch immer vorlegen, es wird uns nicht helfen, die Korruption zu überwinden.“
Der Antikorruptionsaktivist Witalij Schabunin bewertet die Gleichsetzung von Korruption mit Hochverrat als taktischen Schritt, um die Einbeziehung des Geheimdienstes zu rechtfertigen und somit korrupte Spitzenbeamte besser schützen zu können. LIGA zitiert ihn wie folgt:
„Der SBU und das Nationale Antikorruptionsbüro werden dieselben Fälle untersuchen. Das heißt also, dass die Beweise in bestimmten Ermittlungen, die für das Präsidialamt ‚heikel‘ sind, vernichtet werden.“
Neue Erkenntnisse im „Winterjacken-Skandal“
Die neue Gesetzesinitiative könnte eine Reaktion auf einen brisanten Korruptionsskandal sein, der von den Investigativjournalisten Jurij Nikolow und Mychajlo Tkatsch aufgedeckt wurde. Laut der Recherche soll das Verteidigungsministerium Jacken zu vielfach überhöhten Preisen beschafft haben. Zwei Tage vor Selenskyjs Vorstoß veröffentlichte Tkatsch weitere Informationen in einem Video auf der Website der Ukrajinska Prawda:
„Einer der Eigentümer des türkischen Unternehmens, das 30 Millionen US-Dollar vom Verteidigungsministerium erhalten hat und von dem das Ministerium […] Sommerjacken statt Winterjacken zu einem vielfach überhöhten Preis bezogen hat, ist der Neffe eines Mitglieds der Diener des Volkes-Fraktion des Präsidenten. Der Abgeordnete ist Mitglied des parlamentarischen Ausschusses für nationale Sicherheit, Verteidigung und Aufklärung.“
Psychologische Auswirkungen des Krieges auf die Ukrainer
Seit dem Beginn der russischen Aggression gegen die Ukraine sind eineinhalb Jahre vergangen. Ukrainische Medien diskutieren über die psychologischen Folgen des langen Krieges.
Den Einfluss des Krieges auf ukrainische Jugendliche beschreibt die Psychiaterin Halyna Pyljahina gegenüber Hromadske:
„Menschen sterben, gewaltsame Vertreibungen, Probleme mit der Bildung, Trennung von Freunden – wirkt sich das auf Jugendliche aus? Selbstverständlich. Aber es kommt immer auf den Einzelfall an, welche konkreten Folgen das hat. […] Aus meiner praktischen Erfahrung heraus würde ich sagen, dass unsere am meisten gefährdete Gruppe die Binnenvertriebenen sind. Aber auch hier kann das Problem eines Teenagers, selbst wenn er oder sie einen geliebten Menschen verloren hat, ganz woanders liegen.“
Die Psychotherapeutin Olena Platowa sieht keinen Grund zur Annahme, dass der Krieg die Zahl der Suizidversuche von Jugendlichen erhöht habe. Hromadske zitiert sie wie folgt:
„Wenn ich mit Jugendlichen in den besetzten Gebieten spreche, aus Familien, die vom Krieg betroffen sind, dann sprechen sie auch über ihre Suizidgedanken. Aber diese haben nichts mit Militäroperationen, äußeren Herausforderungen und noch nicht einmal mit Ängsten zu tun. Sondern mit den ewigen Problemen der Pubertät: ‚Wer bin ich? Was ist der Sinn dieses Lebens? Lieben die, die ich liebe, mich? Werden sie mich auch in Zukunft lieben?‘“
Im Interview mit NV fasst Jewhen Holowacha, Leiter des Instituts für Soziologie der Nationalen Akademie der Wissenschaften der Ukraine, die Ergebnisse der jährlichen Studie zur Einstellung der Ukrainer zusammen, die das Institut seit 1991 durchführt:
„Erstens stellen alle soziologischen Studien, nicht nur unsere, eine Konsolidierung der ukrainischen Gesellschaft in vielen Bereichen fest. Die grundlegenden Unterschiede zwischen dem Osten und Westen des Landes sind verschwunden […] Die zweite Sache ist der Glaube an den Sieg. […] Und, was noch wichtiger ist, es gibt eine Konsolidierung der Vorstellung davon, was ein Sieg bedeutet. Mehr als 80 Prozent der Ukrainer, fast 85 Prozent, glauben, dass der Sieg die Rückkehr zu den Grenzen von 1991 bedeutet. […] Ob die Ukrainer sich an den Krieg gewöhnt haben? Ich würde es nicht als Normalisierung bezeichnen. Die Normalisierung des Krieges findet in Russland statt. Dort wird er in den Köpfen verdrängt. In der Ukraine hat eine Anpassung stattgefunden.“
Gefördert durch:
Ukrainische Medien
Die Online-Zeitung Ukrajinska Prawda veröffentlicht als regierungskritisches Medium investigative Artikel und deckte auch Korruptionsfälle innerhalb der ukrainischen Regierung auf. Sie zählt zu den meistgenutzten Nachrichtenportalen der Ukraine.
Die Ukrajinska Prawda wurde im Jahr 2000 vom ukrainisch-georgischen Journalisten Heorhij Gongadse gegründet, der im darauffolgenden Jahr – angeblich auf Veranlassung des damaligen Präsidenten Leonid Kutschma – ermordet wurde. Die heutige Chefredakteurin ist die bekannte ukrainisch-krimtatarische Journalistin Sevgil Musaieva.
Im Mai 2021 verkaufte die damalige Eigentümerin Olena Prytula 100 Prozent der Anteile an Dragon Capital, eine ukrainische Investment-Management-Gesellschaft, die vom tschechischen Unternehmer Tomáš Fiala geleitet wird.
Aufrufe der Website im Mai 2023: 69,6 Millionen
Das Online-Nachrichtenportal und ‑Fernsehen Hromadske finanziert sich über Crowdfunding bei seinen Leserinnen und Lesern, Spenden, Werbung und über für andere Medien aufgenommene Videos.
Hromadske wurde als NGO mit dazugehörigen Online-Medien im November 2013 mit Beginn des Euromaidan gegründet. Die jetzige Chefredakteurin ist die ukrainische Journalistin Jewhenija Motorewska, die sich zuvor mit dem Thema Korruption in ukrainischen Strafverfolgungsbehörden befasst hat.
Die Weiterentwicklung von Hromadske wird von einem Vorstand vorangetrieben, der aus sieben prominenten ukrainischen Persönlichkeiten besteht, darunter Nobelpreisträgerin Oleksandra Matwijtschuk.
Aufrufe der Website im Mai 2023: 2,8 Millionen
Der ukrainische Fernsehsender mit Online-Nachrichtenportal, dessen Chefredakteurin die ukrainische Journalistin Chrystyna Hawryljuk ist, wird finanziell von der ukrainischen Regierung unterstützt. In diesem Zusammenhang hat sich die Website einer ausgewogenen Berichterstattung verpflichtet.
Das renommierte Institute of Mass Information führte Suspilne.Novyny im September 2021 auf der sogenannten „weißen Liste“ ukrainischer Medien, die ein sehr hohes Niveau an zuverlässigen Informationen bieten.
Suspilne.Novyny wurde im Dezember 2019 gegründet und gehört zur Nationalen öffentlichen Rundfunkgesellschaft der Ukraine. Im Januar 2015 war die zuvor staatliche Rundfunkanstalt entsprechend europäischen Standards in eine öffentliche Rundfunkgesellschaft umgewandelt worden.
Aufrufe der Website im Mai 2023: 7,4 Millionen
NV ist eine Print- und Online-Zeitschrift, deren Schwerpunkt auf Nachrichten aus dem Ausland und der ukrainischen Politik liegt. Zu den Hauptthemen zählen die internationale Unterstützung der Ukraine, Korruption sowie die künftige Entwicklung des Landes. Die Online-Ausgabe veröffentlich oft Artikel renommierter ausländischer Medien wie The Economist, The New York Times, BBC und Deutsche Welle. Die Zeitschrift erscheint freitags als Druckausgabe auf Ukrainisch, die Website ist auf Ukrainisch, Russisch und Englisch verfügbar. NV gilt als eine der zuverlässigsten Nachrichtenquellen in der Ukraine.
NV wurde im Jahr 2014 – ursprünglich unter dem Namen Nowjoe Wremja („Die neue Zeit“) – vom ukrainischen Journalisten Witalij Sytsch gegründet, der die Chefredaktion übernahm. Zuvor arbeitete Sytsch bei dem ebenfalls populären Magazin Korrespondent. Er verließ Korrespondent, nachdem es an Serhij Kurtschenko – einen Janukowytsch nahestehenden Oligarchen aus Charkiw – verkauft worden war. NV gehört zum Verlagshaus Media-DK, dessen Eigentümer der tschechische Unternehmer Tomáš Fiala ist.
Aufrufe der Website im Mai 2023: 27,1 Millionen
Dserkalo Tyschnja liefert Hintergrundberichte und Analysen; das Themenspektrum umfasst politische, wirtschaftliche, soziale und kulturelle Themen. Die Zeitung betrachtet die ukrainische Politik und deren Akteure in einem internationalen Zusammenhang. Dserkalo Tyschnja steht auf der „weißen Liste“ ukrainischer Medien, die zuverlässige Informationen liefern.
Dserkalo Tyschnja ist eine der ältesten ukrainischen Zeitungen und erschien zuerst 1994. Seit 2020 ist die Zeitung nur noch online verfügbar: auf Ukrainisch, Russisch und Englisch. Chefredakteurin ist die bekannte ukrainische Journalistin Julija Mostowa, Ehefrau des ehemaligen ukrainischen Verteidigungsministers Anatolij Hrysenko.
Aufrufe der Website im Mai 2023: 4,7 Millionen
Das ukrainische Online-Magazin Babel wurde im September 2018 gegründet. Das Themenspektrum umfasst soziale und politische Themen; besonderes Augenmerk gilt aber auch Nachrichten aus der Wissenschaft und über neue Technologien.
Nach dem 24. Februar 2022 wurde die zuvor ebenfalls angebotene russische Version der Website geschlossen. Stattdessen wird nun eine englische Version angeboten. Babel finanziert sich über Spenden. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Babel engagieren sich in zahlreichen Projekten, die darauf abzielen, die ukrainischen Streitkräfte während des Krieges zu unterstützen.
Die Eigentümer des Online-Magazins sind der erste Chefredakteur Hlib Husjew, Kateryna Kobernyk und das slowakische Unternehmen IG GmbH. Heute ist der ukrainische Journalist Jewhen Spirin, der aus dem besetzten Luhansk stammt, Chefredakteur von Babel.
Aufrufe der Website im Mai 2023: 1,1 Millionen
Das Online-Magazin Liwyj Bereh gehört zum Horschenin-Institut, einer ukrainischen Denkfabrik, die sich mit politischen und gesellschaftlichen Prozessen in der Ukraine und der Welt beschäftigt. Liwyj Bereh hat sich auf Interviews spezialisiert; häufige Themen sind die ukrainische Innen- und internationale Politik sowie soziale Fragen in der Ukraine.
Liwyj Bereh wurde im Juni 2009 gegründet, Chefredakteurin Sonja Koschkina hat seit 2018 einen eigenen Youtube-Kanal „KishkiNA“, auf dem sie Interviews mit verschiedenen Personen veröffentlicht.
Aufrufe der Website im Mai 2023: 2 Millionen
Im Fokus des ukrainischen im Jahr 2000 gegründeten Online-Nachrichtenportals LIGA stehen wirtschaftliche, politische und soziale Themen. Seit 2020 steht LIGA auf der „weißen Liste“ ukrainischer Medien, die stets präzise Informationen und zuverlässige Nachrichten anbieten.
Chefredakteurin ist die ukrainische Journalistin Julija Bankowa, die davor eine leitende Position bei dem Online-Magazin Hromadske hatte.
Der Eigentümer des Nachrichtenportals ist die ukrainische unabhängige Mediaholding Ligamedia, deren Geschäftsführer Dmytro Bondarenko ist.
Aufrufe der Website im Mai 2023: 8,5 Millionen
Censor präsentiert sich als Website mit „emotionalen Nachrichten“. Der Fokus liegt vor allem auf innenpolitischen Entwicklungen. Seit dem russischen Überfall auf die Ukraine sind viele Beiträge den Ereignissen an der Front und den ukrainischen Streitkräften gewidmet. Censor ist auf drei Sprachen verfügbar: Ukrainisch, Russisch und Englisch.
Das Nachrichtenportal Censor wurde 2004 vom bekannten ukrainischen Journalisten Jurij Butusow gegründet und zählt zu den populärsten Nachrichtenseiten des Landes. Butusow gilt als scharfer Kritiker von Präsident Selenskyj. Er erhebt schwere Vorwürfe in Bezug auf Korruption innerhalb der ukrainischen Regierung, schlechte Vorbereitung auf den Krieg gegen Russland und unbefriedigende Verwaltung der Armee. Butusow wird von über 400.000 Menschen auf Facebook gelesen. Seine Posts auf dem sozialen Netzwerk haben enormen Einfluss und lösen hitzige Diskussionen aus.
Aufrufe der Website im Mai 2023: 59 Millionen
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