Olha Ste­fa­ni­schyna: die Frau für die euro­päi­sche Integration

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Seit 2020 ist die ukrai­ni­sche Juris­tin Olha Ste­fa­ni­schyna Stell­ver­tre­tende Pre­mier­mi­nis­te­rin für die euro­päi­sche und euroat­lan­ti­sche Inte­gra­tion. Obwohl die Befug­nisse in diesem Amt begrenzt sind, tragen die meisten Erfolge Kyjiws in Bezug auf den EU-Bei­tritt ihre Hand­schrift – vor allem dank ihrer her­vor­ra­gen­den Ver­net­zung in Brüssel.

Zu den Kurio­si­tä­ten der ukrai­ni­schen Politik gehört, dass es nicht nur eine bekannte Poli­ti­ke­rin namens Olha Ste­fa­ni­schyna gibt, sondern zwei. Da gibt es zunächst einmal die Abge­ord­nete der Frak­tion Holos („Stimme“), die stell­ver­tre­tende Gesund­heits­mi­nis­te­rin war und in der Ukraine als eine der größten Befür­wor­te­rin­nen der Lega­li­sie­rung von Can­na­bis zur medi­zi­ni­schen Nutzung bekannt ist. Und es gibt die andere Olha Ste­fa­ni­schyna, die pro­mi­nente Juris­tin, die seit dem Sommer 2020 Stell­ver­tre­tende Pre­mier­mi­nis­te­rin für die euro­päi­sche und euroat­lan­ti­sche Inte­gra­tion der Ukraine ist.

Gra­tu­la­ti­ons­posts an die „falsche“ Olha Stefanischyna

Als sie dazu ernannt wurde, sorgte das zunächst einmal für Ver­wir­rung. In vielen Gra­tu­la­ti­ons­posts in den sozia­len Medien wurde die „falsche“ Olha Ste­fa­ni­schyna adres­siert: Die Holos-Abge­ord­nete erhielt unzäh­lige Anrufe und Pri­vat­nach­rich­ten. Mitt­ler­weile ist der ukrai­ni­schen Öffent­lich­keit jedoch auch die Stell­ver­tre­tende Pre­mier­mi­nis­te­rin Ste­fa­ni­schyna gut bekannt. Sie steht zwar nicht gerne im Mit­tel­punkt der Auf­merk­sam­keit, aber bei Ereig­nis­sen, die zu ihrer Amts- und Fach­kom­pe­tenz gehören, bezieht sie klare Posi­tion. So stand sie auch beim NATO-Gipfel in Vilnius im Juli 2023 im Fokus der Medien.

Die 37-jährige Ste­fa­ni­schyna stammt ursprüng­lich aus dem süd­ukrai­ni­schen Odesa. Sie machte einen Mas­ter­ab­schluss in Inter­na­tio­na­lem Recht an der Kyjiwer Natio­na­len Taras-Schewtschenko-Uni­ver­si­tät und wurde dort neben­bei zur Eng­lisch­über­set­ze­rin aus­ge­bil­det. Sie absol­vierte Prak­tika an diplo­ma­ti­schen Aka­de­mien in Wien und Tallinn. Später stu­dierte sie in einem Fern­stu­dium an der Natio­na­len Wirt­schafts­uni­ver­si­tät Odesa zusätz­lich den Schwer­punkt „Finan­zen und Kredite“.

Ihre Prio­ri­tät: die euro­päi­sche Integration

Ihre beruf­li­che Kar­riere begann Ste­fa­ni­schyna in einer pri­va­ten juris­ti­schen Kanzlei. Nach kurzer Zeit stieg sie jedoch beim ukrai­ni­schen Jus­tiz­mi­nis­te­rium ein und blieb diesem lange Jahre in unter­schied­li­chen Funk­tio­nen treu. Während ihr Vor­gän­ger im heu­ti­gen Amt Wadym Prysta­jko über­wie­gend an den ukrai­ni­schen Bezie­hun­gen zur NATO gear­bei­tet hatte, legte Ste­fa­ni­schyna den Schwer­punkt auf die euro­päi­sche Inte­gra­tion. So spielte sie eine äußerst pro­mi­nente Rolle bei der Vor­be­rei­tung des Asso­zi­ie­rungs­ab­kom­men mit der EU. Ab 2017 war sie Gene­ral­di­rek­to­rin des von der ukrai­ni­schen Regie­rung betrie­be­nen „Büros für die Koor­di­nie­rung der euro­päi­schen und euroat­lan­ti­schen Inte­gra­tion“ und pflegte wei­ter­hin enge Kon­takte mit Brüssel.

Das Team Selen­skyj hatte ihre Arbeit auf­merk­sam verfolgt

Als der dama­lige Pre­mier­mi­nis­ter Wolo­dymyr Hro­js­man mit der Partei „Ukrai­ni­sche Stra­te­gie von Hro­js­man“ bei der Par­la­ments­wahl 2019 antrat, kan­di­dierte Ste­fa­ni­schyna auf der Par­tei­liste. Die Partei schei­terte jedoch bei den Wahlen. Dies hätte zum Ende ihrer Kar­riere in der Politik führen können: Ste­fa­ni­schyna verließ zwi­schen­zeit­lich den Staats­dienst und wech­selte als Bera­te­rin in eine der größten und wich­tigs­ten Rechts­kanz­leien in Kyjiw. Das Team des damals neuen Prä­si­den­ten Wolo­dymyr Selen­skyj hatte ihre Arbeit jedoch auf­merk­sam ver­folgt, vor allem wegen ihrer exzel­len­ten Ver­bin­dun­gen nach Brüssel. Gerüch­ten zufolge war sie bereits bei der Bildung der ersten Regie­rung unter Selen­skyj, die von Oleksij Hont­scha­ruk geführt wurde, für die Posi­tion der Stell­ver­tre­ten­den Pre­mier­mi­nis­te­rin im Gespräch. Diese Posi­tion ging damals jedoch an den heu­ti­gen Außen­mi­nis­ter Dmytro Kuleba. Erst in der fol­gen­den Regie­rung fand Ste­fa­ni­schyna im Kabi­nett von Denys Schmyhal dann ihren Platz.

Ukrai­ni­sche COVID-Zer­ti­fi­kate von Brüssel anerkannt

Obwohl die außen­po­li­ti­schen Fragen fak­tisch oft direkt aus dem Prä­si­di­al­amt gema­nagt werden und selbst das Außen­mi­nis­te­rium dabei eher die zweite Geige spielt, agiert Ste­fa­ni­schyna durch­aus erfolg­reich. Zu ihren größten Ver­diens­ten in der Zeit vor Beginn der umfas­sen­den rus­si­schen Inva­sion gehörte 2021 die Unter­zeich­nung eines Abkom­mens über den „offenen Luft­raum“ mit der EU, also die Schaf­fung eines gemein­sa­men Hoheits­raums für den siche­ren Flug­ver­kehr. Außer­dem trug Ste­fa­ni­schy­nas Arbeit maß­geb­lich dazu bei, dass die Ukraine zum ersten Nicht­mit­glied der EU wurde, dessen COVID-Zer­ti­fi­kate von Brüssel aner­kannt wurde.

Trotz der schwe­ren Zeit große Fortschritte

„Obwohl die Befug­nisse der Stell­ver­tre­ten­den Pre­mier­mi­nis­te­rin begrenzt sind, weil viele wich­tige außen­po­li­ti­sche Ent­schei­dun­gen im Prä­si­di­al­amt getrof­fen werden, koor­di­niert und über­wacht Ste­fa­ni­schyna erfolg­reich die Umset­zung des Asso­zi­ie­rungs­ab­kom­mens mit der EU sowie andere Schritte zur euro­päi­schen Inte­gra­tion“, schreibt die ukrai­ni­sche Zeit­schrift Fokus in der Begrün­dung, warum sie die Juris­tin 2021 in die Liste der ein­fluss­reichs­ten Ukrai­ner aufnahm (45. Platz). In der­ar­ti­gen Listen taucht Ste­fa­ni­schyna häu­fi­ger auf: Sie schaffte es 2021 auf den 14. Platz auf der eben­falls von Fokus vor­be­rei­te­ten Liste der ein­fluss­reichs­ten Ukrai­ne­rin­nen oder auch in die Top Ten der erfolg­reichs­ten Poli­ti­ker mit juris­ti­schem Hin­ter­grund, auf­ge­stellt von der Fach­zei­tung Jury­dyt­schna Gaseta („Juris­ti­sche Zeitung“).

Seit Februar 2022 beschäf­tigt sich Ste­fa­ni­schyna haupt­säch­lich mit der Erfül­lung der von der EU auf­ge­stell­ten sieben Kri­te­rien für die Auf­nahme von Bei­tritts­ver­hand­lun­gen. Trotz der schwe­ren Zeit zeigt die Ukraine hier teils größere Fort­schritte als in den Jahren zuvor.

„Ich wusste nicht, ob ich meine Kinder wie­der­se­hen würde“

Die beiden Kinder Ste­fa­ni­schy­nas waren nach dem 24. Februar vor­rü­ber­ge­hend im Ausland, sind aber seit Län­ge­rem wieder in Kyjiw. Am ersten Kriegs­tag waren die beiden mit Groß­va­ter und Groß­mutter in den Westen des Landes gereist. „Das war ein ent­schei­den­der Moment für mich, weil ich nicht wusste, wann und ob über­haupt ich sie wie­der­se­hen würde“, erzählt Ste­fa­ni­schyna der Zeit­schrift NV. „Mir wurde klar, dass ich alles tun musste, um zu errei­chen, dass wir über­le­ben und dieser Krieg mit einem Sieg der Ukraine endet. Die Kinder kehrten zu Beginn des Schul­jah­res zurück. Es war schwie­rig für sie. Ich musste ihnen erklä­ren, dass ich sie in ein Land zurück­bringe, in dem ein bru­ta­ler Krieg gegen unser Land tobt und in dem ständig die Gefahr groß­flä­chi­ger Rake­ten­an­griffe besteht. Trotz aller Risiken hat meine 11-jährige Tochter klar für sich ent­schie­den, dass sie nicht im Ausland, sondern nur in der Ukraine in die Schule gehen will.“

Portrait von Denis Trubetskoy

Denis Tru­bets­koy ist in Sewas­to­pol auf der Krim geboren und berich­tet als freier Jour­na­list aus Kyjiw.

 

 

 

 

 

 

 

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