Junge Männer händeringend gesucht

Vor einem Monat hat die Ukraine überraschend ihre Grenzen für Männer im Alter zwischen 18 und 22 Jahren geöffnet. Der umstrittene Schritt soll 17-Jährige, die bisher massenhaft ausgereist sind, verstärkt im Land halten. Die Staatsspitze versucht damit weiter, die Personalprobleme der Armee auf freiwilliger Basis zu lösen.
Die Entscheidung der ukrainischen Regierung kam überraschend: Ende August beschloss sie, die Landesgrenzen für Männer zwischen 18 und 22 Jahren zu öffnen und ihnen ungehinderte Aus- und Wiedereinreisen zu ermöglichen. Seit der Einführung des Kriegsrechts am Tag der russischen Vollinvasion im Februar 2022 war die Grenze für Männer zwischen 18 und 60 Jahren geschlossen. Zur Armee eingezogen wurden allerdings zunächst nur Männer ab 27 Jahren, seit Frühjahr 2024 dann bereits ab 25 Jahren.
Seither wird darüber diskutiert, ob das Mobilisierungsalter weiter herabgesetzt werden sollte, um noch jüngere Männer zum Dienst an der Waffe zu verpflichten. Denn die ukrainische Armee kämpft mit Nachwuchssorgen, auch wenn westliche Medien die personellen Probleme des Militärs bisweilen übertrieben darstellen. Gerade in der Infanterie und bei Drohnenpiloten werden junge Menschen händeringend gesucht. Erschwerend kommt hinzu, dass diese Jahrgänge wegen der demografischen Krise der späten 90er und frühen 2000er Jahre in der Bevölkerung ohnehin unterrepräsentiert sind.
Versuch, die junge Generation zu erreichen
Die Entscheidung, ausgerechnet diesen jungen Menschen nun die ungehinderte Aus- und Einreise zu erlauben, hat jedoch eine klare Motivation. Mit 17 Jahren machen die meisten Ukrainer:innen ihren Schulabschluss und in jüngster Zeit war es zu einer regelrechten Ausreisewelle 17-jähriger Männer gekommen. In dieser Situation war es der Regierung offenbar wichtig, Eltern mehr Bedenkzeit zu geben und Jugendliche davon zu überzeugen, vielleicht doch ein Studium in der Ukraine zu beginnen.
Die Risiken einer solchen Entscheidung waren von Anfang an klar: nämlich, dass statt der 17-Jährigen nun 18- bis 22-Jährige massenhaft das Land verlassen würden, bevor sie Möglichkeit eventuell später nicht mehr haben, sollte das Mobilisierungsalter herabgesetzt werden. Denn dass der russisch-ukrainische Krieg in absehbarer Zeit endet, daran glaubt in der Ukraine heute so gut wie niemand mehr.
Präsidialamt bemüht sich um bessere Kommunikation
Offenbar haben aber auch andere Überlegungen bei der Entscheidung der Regierung eine Rolle gespielt. So berichtet die Ekonomitschna Prawda, die Wirtschaftsausgabe der führenden Online-Zeitung Ukrajinska Prawda, das Präsidialamt habe nach den Protesten gegen die Einschränkung der Befugnisse der Antikorruptionsorgane erkannt, dass die Kommunikation mit dem jüngeren Teil der Gesellschaft allenfalls suboptimal verlaufe.
Der Versuch des mächtigen Chefs des Präsidialamts, Andrij Jermak, direkt mit Studierenden unterschiedlicher Universitäten ins Gespräch zu kommen, war ebenfalls nicht allzu erfolgreich. Man habe schließlich bei Organisationen von Studierenden nachgefragt, welche Wünsche diese hätten – ungehinderte Reisemöglichkeiten standen wenig überraschend ganz oben auf der Liste. Was auch immer tatsächlich ausschlaggebend für die Entscheidung der Regierung gewesen sein mag: Für den ukrainischen Staat ist es zweifellos schwer bis unmöglich, eine Balance zwischen den Bedürfnissen der Armee und demografischen Problemen zu finden.
Wirtschaft fürchtet Kündigungswelle
Was die Auswirkungen der neuen Ausreiseregeln auf Wirtschaft und Arbeitsmarkt angehe, ließen sich belastbare Aussagen frühestens gegen Ende des Jahres machen, so die Ekonomitschna Prawda. „Die Entscheidung, ins Ausland zu gehen, braucht Zeit“, betont etwa Personalmanagerin Kateryna Soloviova. „Junge Menschen müssen Karriere-Entscheidungen abwägen, Jobs kündigen und Dokumente vorbereiten.“ Dieser Prozess gehe normalerweise nicht allzu schnell.
Dennoch ist bei einigen großen Unternehmen, die stark auf junge Arbeitskräfte angewiesen sind, bereits eine deutliche Kündigungswelle zu beobachten. Besonders betroffen davon ist die Gastronomie, aber auch die Supermarkt-Kette Silpo oder der Marktführer bei Postlieferungen, Nowa Poschta, berichten besorgt über steigende Kündigungszahlen. Sie sind zwar noch nicht alarmierend, bei Silpo etwa sind es drei Prozent in der entsprechenden Altersgruppe. Doch es ist eine Tendenz erkennbar – und die spiegelt sich auch in der ebenfalls steigenden Zahl junger Menschen wider, die das Land Richtung Polen verlassen.
Es geht um wenige hunderttausend Menschen
Allerdings würde selbst eine massenhafte Ausreise 18 bis 22-Jähriger der ukrainischen Wirtschaft – bis auf einzelnen Branchen – keinen allzu herben Schlag versetzen. Diese Altersgruppe wird in der Ukraine auf rund 700.000 Menschen geschätzt – sowohl Männer als auch Frauen, von denen die meisten laut Hlib Vyshlinskyi, Direktor des Zentrums für wirtschaftliche Strategie, studieren und dem Arbeitsmarkt ohnehin nicht zur Verfügung stehen. Es gehe also lediglich um etwa 200.000 bis 300.000 potentielle Arbeitnehmer:innen in diesem Alter. Auf den ersten Blick ähnlich niedrig ist das Mobilisierungspotenzial: Maximal 200.000 Männer zwischen 18 und 25 Jahren könnten Experten zufolge realistischerweise zur Armee eingezogen werden. Entsprechend geringer ist die Zahl derer zwischen 18 und 22 Jahre – jener Altersgruppe, die nun erleichtert aus- und wieder einreisen darf.
Doch ganz so einfach ist das Kalkül nicht. Bislang setzt die Regierung das Mobilisierungsalter nicht herab – aus Angst vor einer massiven demografischen Krise in der Zukunft und wegen der geringen Menge an Menschen, die das betreffen würde. Betrachtet man allerdings das Durchschnittsalter in der ukrainischen Armee, das laut inoffiziellen Quellen bei mehr als 40 Jahren liegt, hätte sie eine Verjüngung eigentlich dringend nötig.
Lukrative Angebote für Freiwillige in der Armee
Seit Februar 2025 versucht die ukrainische Regierung, das Problem mit Hilfe eines lukrativen Vertragsprogramms auf freiwilliger Basis zu lösen. Junge Männer zwischen 18 und 24 Jahren, die sich freiwillig für den Dienst in der Armee melden, erhalten umgerechnet mindestens 23.000 Euro pro Jahr – und können mit zusätzlichen Bonuszahlungen sogar auf einen jährlichen Sold von rund 46.000 Euro kommen. Zudem haben sie das Recht, ins Ausland zu reisen und die Streitkräfte nach einem Jahr wieder zu verlassen, was eingezogene Männer nicht dürfen.
Trotz dieser für ukrainische Verhältnisse enorm hohen Verdienstmöglichkeiten meldeten sich auf dieses Angebot hin nur wenige Tausend Männer. Deswegen wurde das Programm im Sommer unter etwas anderen Bedingungen auf Drohnenpiloten ausgeweitet; im ersten Programm hatte man sich lediglich zum Dienst in Sturmbrigaden freiwillig melden können. Ob der Personalknappheit des Militärs langfristig tatsächlich auf freiwilliger Basis beizukommen ist – sei es durch finanzielle Anreize oder erleichterte Reisemöglichkeiten –, bleibt abzuwarten.
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