Jugend als Waffe: Wie Russland in den besetzten Gebieten ukrainische Kinder indoktriniert
Der Krieg gegen die Ukraine hat die russische Jugendpolitik radikalisiert. Nicht nur in der Russischen Föderation, auch in den besetzen Gebieten sind für Kinder militärische Ausbildungskurse in der Schule inzwischen verpflichtend. Dabei verbreiten Veteranen einen aggressiven russischen Großmachtpatriotismus.
Eine Wehrsportschulung für 10-jährige Jungen, die Maschinengewehre zerlegen und wieder zusammensetzen, mit Sportmessern werfen und Luftgewehren schießen – dieses Angebot eines russischen Veteranenverbandes in Sewastopol auf der besetzten Krim fand bei den Feiern zum internationalen Kindertag am 1. Juni 2024 großen Anklang. Veranstaltungen wie diese sind Beispiele für die massive Militarisierung der Jugendpolitik unter dem russischen Besatzungsregime. Dabei geht es vor allem um die Indoktrinierung von Jugendlichen im Geiste des russischen Großmachtnationalismus sowie um ihre Einbindung auf allen staatlichen Ebenen.
Die Jugendpolitik in den besetzten Gebieten der Ukraine ist für Moskau von hoher sicherheitspolitischer Bedeutung und wird überaus großzügig finanziert. Präsident Putin äußert sich regelmäßig zu diesem Thema und hat es auf höchster Ebene beim stellvertretenden Leiter der Präsidialadministration, Sergej Kirijenko, angesiedelt. Dabei setzt die russische Regierung einerseits auf Praktiken, die aus sowjetischer Zeit bekannt sind und adaptiert gleichzeitig innovative Formen der Kinder- und Jugendarbeit.
Kontinuierliches Monitoring durch ukrainische NGOs
Die ukrainische Plattform für Konfliktmanagement in ukrainischen Gemeinden (Association of Middle East Studies (AMES), Theatre for Change, Network for Responsible People) führt ein kontinuierliches Monitoring der Jugendpolitik in den besetzten ukrainischen Gebieten durch. Dafür werten ukrainische Expertinnen und Experten öffentlich zugängliche Quellen der Besatzungsbehörden und Beiträge aus sozialen Netzwerken aus und führen Interviews vor Ort. Auf Ukrainisch werden die Rechercheergebnisse fortlaufend im Podcast „Generation unter Besatzung“ sowie in einer Artikelserie vorgestellt. Basierend auf diesen Analysen soll hier ein Eindruck davon vermittelt werden, wie sich die russische Jugendpolitik in den besetzten Gebieten langfristig entwickelt.
Als Beispiel dienen dabei der internationale Kindertag am 1. Juni und der Schulanfang am 1. September mit den verschiedenen Veranstaltungen und Angeboten staatlicher Einrichtungen, Jugendorganisationen, politischer Parteien und Veteranenverbände in Simferopol und Sewastopol auf der Krim. Zwar unterscheiden sich die beiden Städte, die schon seit zehn Jahren unter russischer Besatzung stehen, von Städten wie Sewerodonezk oder Mariupol, die erst 2022 besetzt wurden. Dennoch ist das Vorgehen der Besatzungsbehörden überregional einheitlich.
Schülerinnen und Schüler erhalten russische Pässe
In Sewastopol fand am 1. Juni das „Festival der Kindheit und Jugend“ statt. Es wurde von der lokalen Filiale der neuen russischen Jugendorganisation „Bewegung der Ersten“ organisiert, die seit 2022 besteht und Kinder und Jugendliche nach den traditionellen geistig-moralischen Werten Russlands erziehen will. Die „Bewegung der Ersten“ stützt sich auf das Vorbild der Pioniere, verfolgt aber auch innovative Ansätze der Jugendarbeit. So ist sie professionell in den sozialen Medien unterwegs, arbeitet mit Künstlerinnen und Künstlern zusammen und fördert ausgewählte Subkulturen. Finanziert wird die Bewegung von der russischen Behörde für Jugendfragen Rosmolodjosch.
Etwa 500 Schülerinnen und Schüler, Studierende und Lehrende nahmen den Veranstaltern zufolge an dem Festival teil. Bei der Eröffnung wurden unter der Losung „Wir sind Bürger Russlands“ Personalausweise an 18 Schülerinnen und Schüler überreicht. Die paramilitärische Jugendendorganisation Junarmija organisierte als Partnerin des Festivals einen Workshop zum Thema „Unter der Fahne eines großen Staates“. Auch politische Parteien beteiligten sich an den Feiern zum 1. Juni. So organisierte der lokale Ableger der Kremlpartei Einiges Russland organisierte in Sewastopol ein Sportfest; Mitglieder der rechtsradikalen, vom Kreml kontrollierten Partei LDPR verteilten 2000 Portionen Eis.
Ex-Soldaten unterrichten Kinder und Jugendliche
Daneben spielten Veteranenverbände der russischen Armee für die Mobilisierung von Jugendlichen am 1. Juni eine wichtige Rolle. Die lokale Zweigstelle der „Freiwilligen Gesellschaft zur Unterstützung des Heeres der Luftwaffe und der Marine Russlands“ berichtete anlässlich des Feiertags, in Sewastopol hätten 964 Schülerinnen und Schüler sowie 752 Studierende die fünftägige Ausbildung „Grundlagen der Sicherheit“ absolviert. Zu deren Inhalten gehörten „militärische Grundlagen, Schusswaffenausbildung, Strahlenschutz, chemische und biologische Abwehr, allgemeine militärische Vorschriften, Drill und körperliche Ausbildung sowie militärmedizinische Ausbildung“. Die Schulung wurde von Soldaten durchgeführt, die im russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine kämpfen.
Die Jugendpolitik in der Russischen Föderation wurde nach der Annexion der Krim immer stärker militarisiert. Seit dem Großangriff auf die Ukraine im Februar 2022 wurde dies noch einmal deutlich intensiviert und ausgeweitet. Landesweit entstehen Zentren für die „militär-patriotische“ Ausbildung und neue Kooperationen zwischen Bildungs- und Verteidigungsministerium, etwa Lager für Militärsport und patriotische Erziehung.
Neues Unterrichtsfach vermittelt militärische Erstausbildung
Am 1. September 2024 wurde in Russland und den besetzten Gebieten das Schulfach „Grundlagen der Sicherheit und Verteidigung der Heimat“ eingeführt. Darin geht es hauptsächlich um die Vermittlung militärischer Grundkenntnisse, den Umgang mit Waffen, die Steuerung von Drohnen, taktische Medizin und Katastrophenschutz. Den Lehrplan entwickelten das Bildungs- und das Verteidigungsministerium der Russischen Föderation gemeinsam. Er baut auf einem Kurs auf, der bereits früher an russischen Schulen unterrichtet wurde: Grundlagen der Lebenssicherheit. Zentraler Bestandteil ist die obligatorische Teilnahme aller Schülerinnen und Schüler an einer fünftägigen militärischen Ausbildung in einem Jugendmilitärlager.
Das Handbuch zum Fach, das die russischen Ministerien für Bildung, Verteidigung und Katastrophenschutz zusammen mit der Nationalgarde und anderen Behörden entwickeln und das auch der Umschulung des Lehrpersonals dient, soll Ende 2024 fertig sein. Die Aufteilung des Unterrichts in einen theoretischen und einen praktischen Teil bedeutet, dass russische Veteranen des Krieges in der Ukraine sowie der Kriege in Tschetschenien, Georgien und Syrien Schülern und Schülerinnen neben militärischen Kenntnissen auch einen aggressiven russischen Großmachtpatriotismus vermitteln werden.
Militarisierung durchdringt den Alltag von Kindern
Bereits 2016 war die paramilitärische Jugendorganisation Junarmija gegründet worden, die ebenfalls der militärischen Früherziehung dient und dem russischen Verteidigungsministerium unterstellt ist. Die Organisation soll über eine Million Mitglieder haben und ist über Kooperationen mit Veteranenverbänden und Militärbildungseinrichtungen aktiv. Auf der Krim werden die Aktivitäten der Organisation durch ein „Krim-Patriot-Zentrum“ mit 30 Mitarbeitern koordiniert. Bereits jetzt finden in Simferopol und Sewastopol an vielen Schulen Sommerlager statt, an denen Offiziere und Militärexperten als Trainer beteiligt sind.
Durch die Ansiedlung der militärischen Ausbildung in den Schulen wird die Militarisierung jetzt noch stärker in den Lebensalltag junger Menschen integriert. Wie die Mobilisierung in den besetzten Gebieten und die Ausgabe von russischen Pässen verstößt auch die Militarisierung von Kindern gegen das Völkerrecht. Russland benutzt diese gewaltsame Methode, um Rekruten für die Kriegsführung zu gewinnen. In den besetzten Gebieten ist die Militarisierung der Jugendpolitik dabei ein Mittel, jede Form von Loyalität zur Ukraine im Keim zu ersticken.
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