Iryna Werescht­schuk: von der umstrit­te­nen Poli­ti­ke­rin zur erfolg­rei­chen Ministerin

Foto: Imago Images

Iryna Werescht­schuk galt lange als latent pro­rus­sisch. Es wurde sogar über ihre Ver­bin­dun­gen zum Putin-nahen Poli­ti­ker und Unter­neh­mer Wiktor Med­wedt­schuk spe­ku­liert. Doch der rus­si­sche Angriffs­krieg hat alles ver­än­dert: Sowohl ihr Mann als auch ihr Sohn sind bei der Armee, während sie sich als Stell­ver­tre­tende Pre­mier­mi­nis­te­rin und Minis­te­rin für die Reinte­gra­tion der vor­über­ge­hend besetz­ten Gebiete erfolg­reich um die Eva­ku­ie­rung der Zivi­lis­ten aus front­na­hen Gebie­ten kümmert.

Schil­lernd und kon­tro­vers sind zwei Begriffe, mit denen sich die bis­he­rige poli­ti­sche Kar­riere von Iryna Werescht­schuk wohl am pas­sends­ten beschrei­ben lässt. Werescht­schuk stammt aus der kleinen Stadt Rawa-Ruska im Bezirk Lwiw nahe der pol­ni­schen Grenze mit rund 9.000 Ein­woh­nern. Sie absol­vierte am Mili­tär­in­sti­tut der Natio­na­len Uni­ver­si­tät „Lwiwska Poly­tech­nika“ ein Studium mit dem Schwer­punkt „Inter­na­tio­nale Infor­ma­tion“ und schloss vier Jahre später zusätz­lich ein Jura­stu­dium an der Natio­na­len Iwan-Franko-Uni­ver­si­tät Lwiw ab. Fünf Jahre lang diente die heutige Poli­ti­ke­rin als Offi­zie­rin bei der ukrai­ni­schen Armee. In dieser Zeit erlernte sie Karate und Nah­kampf, heute trai­niert sie Thaiboxen.

Frag­wür­dige Aus­zeich­nung unter Janukowytsch

Die ersten Schlag­zei­len machte die heute 43-Jährige, als sie 2010 in ihrer Geburts­stadt mit 30 Jahren zu einer der jüngs­ten Bür­ger­meis­te­rin der Ukraine gewählt wurde. Doch der Ein­druck, den sie auf diesem Posten hin­ter­ließ, war nicht nur positiv. 2011 erhielt sie vom dama­li­gen Prä­si­den­ten Wiktor Janu­ko­wytsch eine Erin­ne­rungs­me­daille zum 20. Jah­res­tag der ukrai­ni­schen Unab­hän­gig­keit, was aus heu­ti­ger Per­spek­tive äußerst frag­wür­dig erscheint. Werescht­schuk behaup­tete im Nach­hin­ein, die Medaille sechs Monate lang nicht ent­ge­gen­ge­nom­men zu haben, bis ihr erklärt worden sei, dass sie ansons­ten Schwie­rig­kei­ten bekom­men werde. Die ukrai­ni­sche Presse hielt dies jedoch nicht für beson­ders glaub­wür­dig, weil staat­li­che Aus­zeich­nun­gen nor­ma­ler­weise vorher ange­kün­digt werden.

Im Jahr 2013 unter­zeich­nete Werescht­schuk als Bür­ger­meis­te­rin – nach der Ent­schei­dung der Janu­ko­wytsch-Regie­rung, das Asso­zi­ie­rungs­ab­kom­men mit der EU nicht zu unter­schrei­ben – einen Brief an das Euro­pa­par­la­ment mit der Bitte, „ein Asso­zi­ie­rungs­ab­kom­men zwi­schen der Euro­päi­schen Union und der Gebiets­kör­per­schaft Rawa-Ruska zu schlie­ßen“. Es gab aller­dings große Zweifel, ob Werescht­schuks Aufruf nicht popu­lis­tisch moti­viert war und eine euro­päi­sche sowie trans­at­lan­ti­sche Inte­gra­tion der Ukraine ihren dama­li­gen Ansich­ten über­haupt entsprach.

Putins Russ­land: „Auto­ri­ta­ris­mus mit demo­kra­ti­schem Antlitz“?

Dass Janu­ko­wytsch das EU-Asso­zi­ie­rungs­ab­kom­men nicht unter­schrieb, führte zum Beginn des Euro­mai­dan. Doch während die Demons­tran­ten auf dem Maidan-Platz in Kyjiw aus­harr­ten, lobte Werescht­schuk gegen­über rus­si­schen Medien Wla­di­mir Putin. Sie bezeich­nete Russ­land als „Auto­ri­ta­ris­mus mit demo­kra­ti­schem Antlitz“ und betonte: „Hätten wir einen solchen Putin, hätte ich für ihn gestimmt. Er tut Gutes für Russ­land.“ Und noch im Herbst 2019 sprach sie sich im ukrai­ni­schen Fern­se­hen – als Par­la­ments­ab­ge­ord­nete der über­wie­gend aus Poli­tik­neu­lin­gen schnell zusam­men­ge­bas­tel­ten Partei „Diener des Volkes“ um den Prä­si­den­ten Wolo­dymyr Selen­skyj – für ein Über­den­ken der Bezie­hun­gen mit der NATO aus: „Wir klopfen an ver­schlos­sene Türen und ver­lie­ren unseren Ruf. Wir können nicht dorthin gehen, wo wir nicht erwar­tet werden.“

Als eine Art Mana­ge­rin der Stadt Rawa-Ruska und Exper­tin für Gemein­de­ver­wal­tung hatte Werescht­schuk als Bür­ger­meis­te­rin trotz­dem einen pas­sa­blen Ruf – und das gehörte zu den Gründen, warum die Partei „Diener des Volkes“ sie für die Bür­ger­meis­ter­wahl 2020 in Kyjiw auf­stellte, bei der auch Vitali Klit­schko antrat. Das Ergeb­nis war mise­ra­bel: Während die Ver­tre­ter von „Diener des Volkes“ bei der Par­la­ments­wahl im Sommer 2019 noch alle Direkt­man­date in Kyjiw geholt hatten, belegte Werescht­schuk mit 5,44 Prozent ledig­lich den fünften Platz – trotz Selen­skyjs Beliebt­heit und eines sehr hohen Wer­be­etats für die Wahl.

Spe­ku­la­tio­nen über Kon­takte zu Putin-Freunden

Die 43-Jährige gehörte zwar zu den­je­ni­gen „Diener des Volkes“-Mitgliedern, die am häu­figs­ten im Fern­se­hen zu sehen waren – schließ­lich war sie eine der erfah­rens­ten Poli­ti­ke­rin­nen der Partei. Doch ihr Image war nicht beson­ders gut. Das lag nicht nur an ihren Aus­sa­gen zur NATO, sondern auch daran, in welchen Sendern sie auftrat. Sie war beson­ders häufig bei Fern­seh­sen­dern zu Gast, die formell dem Abge­ord­ne­ten Taras Kosak – mit dem Werescht­schuk gut bekannt war –, gehör­ten, aber vom pro­rus­si­schen Poli­ti­ker und Unter­neh­mer Med­wedt­schuk kon­trol­liert wurden. So wurde über eine Nähe zwi­schen Werescht­schuk und Med­wedt­schuk spe­ku­liert. Ihren eigenen Worten zufolge hat sie den Putin-Freund aller­dings nie kennengelernt.

Im Novem­ber 2021, wenige Monate vor Beginn der umfas­sen­den rus­si­schen Inva­sion, wurde Werescht­schuk zur Stell­ver­tre­ten­den Pre­mier­mi­nis­te­rin ernannt. Seitdem hat sich die Ein­stel­lung vieler Ukrai­ne­rin­nen und Ukrai­ner ihr gegen­über stark ver­än­dert. Dabei pola­ri­siert sie immer noch mit manchen Aus­sa­gen: Äußerst kri­tisch reagierte die ukrai­ni­sche Öffent­lich­keit unter anderem auf ihre Äuße­rung vom Juli 2022, dass jede Annahme des rus­si­schen Passes in den besetz­ten Gebie­ten als Ver­bre­chen bewer­tet werde. Es ist bekannt, dass die dort leben­den Ukrai­ner oft dazu gezwun­gen werden und keine andere Wahl haben.

Ver­ant­wort­lich für erfolg­rei­che Eva­ku­ie­run­gen aus front­na­hen Gebieten

Ihre Glaub­wür­dig­keit wird jedoch nicht mehr infrage gestellt. Zum einen dienen sowohl Werescht­schuks 46-jäh­ri­ger Mann als auch ihr 23-jäh­ri­ger Sohn aktuell bei der Armee. „Wir sind eine Mili­tär­fa­mi­lie“, betont die Poli­ti­ke­rin, die kurz vor dem sich abzeich­nen­den Rück­tritt Oleksij Res­ni­kows sogar als erste Ver­tei­di­gungs­mi­nis­te­rin der Ukraine im Gespräch war. Und zum anderen über­nimmt ihr Minis­te­rium erfolg­reich eine Mam­mut­auf­gabe: die Eva­ku­ie­run­gen aus front­na­hen Gegen­den. Diese Aufgabe wird dadurch erschwert, dass es selbst in schwer umkämpf­ten Orten wie Awdi­jiwka oder Bachmut Men­schen gibt, die bis zur letzten Sekunde ihre Häuser nicht ver­las­sen wollen. Es ist nicht zuletzt Werescht­schuks Ver­dienst, dass die Eva­ku­ie­run­gen dennoch größ­ten­teils gelin­gen. So kann sie mit einem gewis­sen Opti­mis­mus auf ihre poli­ti­sche Zukunft in der Nach­kriegs­zeit schauen. Per­sön­lich ist für sie ent­schei­dend, dass ihr Mann und ihr Sohn zunächst heil aus der Armee zurückkehren.

Portrait von Denis Trubetskoy

Denis Tru­bets­koy ist in Sewas­to­pol auf der Krim geboren und berich­tet als freier Jour­na­list aus Kyjiw.

 

 

 

 

 

 

 

Geför­dert durch:

Ver­wandte Themen

News­let­ter bestellen

Tragen Sie sich in unseren News­let­ter ein und bleiben Sie auf dem Laufenden.

Mit unseren Daten­schutz­be­stim­mun­gen erklä­ren Sie sich einverstanden.