Intakte Infra­struk­tur schüt­zen – statt zer­störte reparieren

Foto: IMAGO /​ Anadolu Agency

Eigent­lich ist es ganz einfach: Jeder Euro, der in Mili­tär­hilfe und Flug­ab­wehr­sys­teme inves­tiert wird, rettet Men­schen­le­ben und spart Mil­lio­nen­hilfe beim Wie­der­auf­bau und der Repa­ra­tur zer­stör­ter Infra­struk­tur. Doch um das rich­tige Maß an Unter­stüt­zung für die Ukraine wird gerun­gen. Ein Beitrag zur Debatte.

In der Ukraine gibt es zwei Zeit­rech­nun­gen: Beinahe 4.300 Tage dauert der Krieg, den Russ­land 2014 gegen die Ukraine lostrat; mehr als 1.300 Tage sind seit dem rus­si­schen Groß­an­griff im Februar 2022 ver­gan­gen. Nach der einen wie nach der anderen Rech­nung hat sich die Ukraine als bemer­kens­wert resi­li­ent erwie­sen. Sie setzt Refor­men um und arbei­tet erfolg­reich mit inter­na­tio­na­len Part­nern zusam­men. Vor allem seit 2022 gehören zu den tra­gen­den Stützen der ukrai­ni­schen Wider­stands­fä­hig­keit umfang­rei­che Militär- und Finanz­hil­fen inter­na­tio­na­ler Geldgeber.

Dabei brau­chen Taten gemein­hin länger als Worte. Bun­des­kanz­ler Olaf Scholz ver­kün­dete im Herbst 2022 „der beste Wie­der­auf­bau“ sei einer, „der gar nicht statt­fin­den“ müsse. Sein Nach­fol­ger Fried­rich Merz betont wie­der­holt, er wolle die Ukraine bei der Luft­ver­tei­di­gung noch stärker unter­stüt­zen man müsse die „Raketen und Drohnen stoppen“, die auf die Ukraine abge­schos­sen werden. Zwi­schen beiden Aus­sa­gen liegen drei Jahre – Jahre, in denen die Ukraine enorme Ver­luste an Men­schen­le­ben und Ter­ri­to­rien hin­neh­men musste, in denen Infra­struk­tur zer­stört und beschä­digt wurde. Die Kosten für den Wie­der­auf­bau werden inzwi­schen auf mehrere hundert Mil­li­ar­den Euro geschätzt.

Finanz­hil­fen von mehr als 100 Mil­li­ar­den US-Dollar

Um die Ukraine wieder auf­zu­bauen und nach­hal­tig resi­li­ent zu machen, bedarf es einer aus­ge­wo­ge­nen Mischung der drei Berei­che Mili­tär­hilfe, Repa­ra­tu­ren und Instand­set­zung sowie dem eigent­li­chen Wie­der­auf­bau. Momen­tan ist vor allem der Bedarf an Sofort­hil­fen für Repa­ra­tu­ren enorm. Im Fol­gen­den soll es mit beson­de­rem Augen­merk auf Deutsch­land um alle drei Berei­che der Unter­stüt­zung gehen.

Seit Februar 2022 hat die Ukraine von inter­na­tio­na­len Part­nern Finanz­hil­fen in Höhe von etwa 152 Mil­li­ar­den US-Dollar in Form von Dar­le­hen und Zuschüs­sen zum Staats­haus­halt erhal­ten. Deutsch­land kam dabei für rund 1,7 Mil­li­ar­den Dollar auf, weitere 52 Mil­li­ar­den Dollar flossen aus ver­schie­de­nen EU-Töpfen. Zur Ein­ord­nung: In Deutsch­land betrug das Staats­de­fi­zit 2024 mehr als 100 Mil­li­ar­den Euro (ca. 137 Mil­li­ar­den US-Dollar).

Finanz­hil­fen inter­na­tio­na­ler Partner machen rund die Hälfte des ukrai­ni­schen Staats­haus­halts aus und decken unter anderem sämt­li­che Aus­ga­ben im zivilen Bereich. Nach Angaben des Kieler Insti­tuts für Welt­wirt­schaft gibt kaum ein Staat mehr als ein Prozent seines Brut­to­in­lands­pro­dukts für Hilfe an die Ukraine aus. Deutsch­land etwa hat der Ukraine seit 2022 Hilfe in Höhe von 0,6 Prozent des jähr­li­chen BIP geleis­tet – der größte Teil davon Militärhilfen.

Drohnen und Lang­stre­cken­waf­fen fehlen

Zu den wich­tigs­ten Kom­po­nen­ten mili­tä­ri­scher Hilfe gehört die Lie­fe­rung von Rüs­tungs­gü­tern, Aus­rüs­tung und Technik zum direk­ten Einsatz an der Front. Unmit­tel­bar nach dem rus­si­schen Groß­an­griff im Februar 2022 war die mili­tä­ri­sche Unter­stüt­zung durch die EU-Staaten wir­kungs­vol­ler, aller­dings floss sie eher zäh. Mitt­ler­weile ist der Krieg in einer neuen tech­ni­schen Phase ange­langt, er ist zu einem Krieg der Drohnen und unbe­mann­ten Systeme gewor­den. In diesem Bereich hat die Ukraine inno­va­tive Fähig­kei­ten auf­ge­baut, die im übrigen Europa ihres­glei­chen suchen. Ein Erfah­rungs­aus­tausch wäre hier für die deut­sche Rüs­tungs­in­dus­trie äußerst wertvoll.

Leider fehlt es der Ukraine an Mitteln für eine Ska­lie­rung der Pro­duk­tion viel­ver­spre­chen­der Systeme, die dort immer auch gleich im Einsatz getes­tet werden können. Der Rüs­tungs­wett­be­werb mit dem Gegner ist rasant. Deshalb ist das däni­sche Modell der Mili­tär­hilfe so rele­vant: Däne­mark kauft Waf­fen­sys­teme (vor allem Drohnen) von ukrai­ni­schen Her­stel­lern für den sofor­ti­gen Einsatz. Dadurch erreicht drin­gend benö­tig­ter Nach­schub schnel­ler die Front und in der Ukraine werden Arbeits­plätze geschaf­fen. Die auf diese Weise gene­rier­ten Steuern sta­bi­li­sie­ren den ukrai­ni­schen Staats­haus­halt und stärken die Resi­li­enz des Landes.

Die ukrai­ni­sche Armee braucht aber wei­ter­hin auch kon­ven­tio­nelle Waffen und Muni­tion. Ein wich­ti­ges Thema dabei sind Lang­stre­cken­ra­ke­ten. Zivil­ge­sell­schaft­li­che Akteure und Politiker:innen haben mit großem Einsatz dafür gekämpft, dass die deut­sche Regie­rung Taurus-Marsch­flug­kör­per in die Ukraine schickt – doch dies schei­tert nach wie vor an poli­ti­schen Bedenken.

Bessere Luft­ab­wehr statt Repa­ra­tur von Schäden

Eine zweite wich­tige Kom­po­nente der Mili­tär­hilfe ist die Luft­ver­tei­di­gung. Die Ukraine verfügt nicht über genü­gend Abwehr­sys­teme, um Städte und kri­ti­sche Infra­struk­tur wie Ener­gie­an­la­gen, Häfen oder Bahn­stre­cken vor Angrif­fen zu schüt­zen. 2024 haben rus­si­sche Drohnen und Raketen 50 Prozent der Ener­gie­pro­duk­tion lahm­ge­legt, so dass in den Städten regel­mä­ßig der Strom aus­fällt. Mil­li­ar­den Hrywnja wurden für Repa­ra­tu­ren aus­ge­ge­ben – eine Summe, die die poten­zi­el­len Kosten für die Aus­stat­tung der betrof­fe­nen Orte mit Luft­ver­tei­di­gungs­sys­te­men bei Weitem übersteigt.

Seit Oktober 2025 hat Russ­land wieder mit der mas­si­ven Zer­stö­rung von Kraft­wer­ken begon­nen, erneut müssen Betriebe und Haus­halte mit Strom­aus­fäl­len und ‑abschal­tun­gen zurecht­kom­men. Deutsch­land könnte Abhilfe schaf­fen, indem es lang­fris­tig die Lie­fe­rung von Luft­ab­wehr­sys­te­men und der dazu­ge­hö­ri­gen Muni­tion zusi­chert sowie War­tungs­ar­bei­ten über­nimmt. Das wäre deut­lich güns­ti­ger, als die zer­störte Infra­struk­tur immer wieder neu auf­zu­bauen. Zudem würde es in der deut­schen Rüs­tungs­in­dus­trie für volle Auf­trags­bü­cher und sichere Arbeits­plätze sorgen.

Auch die EU-Initia­tive für mehr Inves­ti­tio­nen in die Ver­tei­di­gungs­fä­hig­keit der Mit­glieds­staa­ten, Secu­rity Action for Europe (SAFE), könnte bei der Unter­stüt­zung der Ukraine helfen. Denn es kostet mit Sicher­heit weniger, Russ­land schon in der Ukraine auf­zu­hal­ten, als es bis in eines der Länder der Euro­päi­schen Union vor­drin­gen zu lassen. Bereits jetzt bedroht Russ­land zivile Flug­hä­fen, wie in München oder Kopen­ha­gen deut­lich wurde. Auch der Luft­raum der bal­ti­schen Staaten und anderer EU-Länder wird immer wieder ver­letzt. Um in einem moder­nen Krieg bestehen zu können, muss Europa drin­gend seinen Ver­tei­di­gungs­sek­tor modernisieren.

Sofort­hilfe bei der Energieversorgung

Die Ukraine ist bisher nicht durch eine flä­chen­de­ckende Luft­ab­wehr geschützt, was Ver­luste und Schäden erheb­lich mini­mie­ren würde. Vor allem Ener­gie­an­la­gen müssten stärker geschützt werden. Dafür braucht die Ukraine Geld ebenso wie Mate­rial, ins­be­son­dere Schutz­zäune und ‑netze oder modu­lare Lösun­gen für Strom- und Wär­me­spei­cher – mit anderen Worten: Güter, die auch in Deutsch­land her­ge­stellt werden.

Eben­falls sinn­voll wäre die weitere Dezen­tra­li­sie­rung der Ener­gie­ver­sor­gung, vor allem in Bezug auf Heiz­wärme. Dafür benö­tigt die Ukraine Technik für den Bau modu­la­rer, gas­be­trie­be­ner Mini-Kraft­werke zur Strom­erzeu­gung und zur Kraft-Wärme-Kopp­lung. Solche kleinen, dezen­tral ope­rie­ren­den Erzeu­ger lahm­zu­le­gen, wäre für die rus­si­sche Armee viel schwie­ri­ger. Deutsch­land könnte über die Kre­dit­an­stalt für Wie­der­auf­bau und staat­li­che Garan­tien helfen, zusam­men mit deut­schen Her­stel­lern der­ar­tige Lösun­gen zu finan­zie­ren. So würden ukrai­ni­sche Städte und Gemein­den gestärkt und gleich­zei­tig der Export von Ener­gie­tech­nik aus Deutsch­land angekurbelt.

Erste Schritte hin zum Wiederaufbau

 Wie sich das Leben in der Ukraine nach einem Ende des Krieges gestal­ten wird, hängt von einer Reihe von Fak­to­ren ab. Dazu gehören vor allem ver­läss­li­che Sicher­heits­ga­ran­tien, wobei Deutsch­land eine Füh­rungs­rolle über­neh­men könnte. Erst wenn es belast­bare Sicher­heits­ga­ran­tien gibt, werden Unter­neh­men wieder in der Ukraine inves­tie­ren und Geflüch­tete zurück­keh­ren. Da Russ­land auf abseh­bare Zeit eine Bedro­hung bleibt, muss die Ukraine zudem eine schlag­kräf­tige Armee unter­hal­ten und finanzieren.

Für Unter­neh­men, die in der Ukraine inves­tie­ren wollen, sind und bleiben Ver­si­che­run­gen wichtig, die auch Kriegs­schä­den absi­chern. Das Bun­des­wirt­schafts­mi­nis­te­rium hat dafür spe­zi­elle Pro­gramme für deut­sche Firmen auf­ge­legt. Diese sollten auf deutsch-ukrai­ni­sche Joint-Ven­tures aus­ge­wei­tet werden.

EU-Bei­tritts­pro­zess als Reformmotor

Auch der EU-Bei­tritts­pro­zess berei­tet den Weg für den Wie­der­auf­bau. Zwi­schen 2015 und 2019 hat die Ukraine gezeigt, dass sie Refor­men zügig umset­zen kann: Die öffent­li­che Auf­trags­ver­gabe und die Dezen­tra­li­sie­rung wurden refor­miert, was zu mehr Trans­pa­renz im Staats- und Ver­wal­tungs­we­sen führte. Seit 2020 wurden digi­tale Pro­zesse in der Ver­wal­tung zuneh­mend digi­ta­li­siert, was das Risiko von Kor­rup­tion und Inef­fi­zi­enz senken kann.

Eine elek­tro­ni­sche Platt­form für öffent­li­che Beschaf­fun­gen namens Pro­zorro erlaubt es heute, die Vergabe staat­li­cher Auf­träge in Echt­zeit nach­zu­voll­zie­hen und so über­höhte Kos­ten­vor­anschläge oder Aus­ga­ben ohne wett­be­werbs­ori­en­tier­tes Aus­wahl­ver­fah­ren früh zu erken­nen. Außer­dem sind sämt­li­che Trans­ak­tio­nen der Haus­halte auf natio­na­ler und kom­mu­na­ler Ebene – mit Aus­nahme der für Ver­tei­di­gung und Sicher­heit seit 2022 – online ein­seh­bar. 2025 hat die Ukraine zudem den Rech­nungs­hof refor­miert, der die öffent­li­che Haus­halts­füh­rung über­prüft. Viele dieser Refor­men wurden erst durch tech­ni­sche Hilfe aus dem Ausland möglich, wobei auch die Deut­sche Gesell­schaft für Inter­na­tio­nale Zusam­men­ar­beit (GIZ) eine wich­tige Rolle spielt.

Aus­bil­dung von Fach­kräf­ten fördern

Die beschrie­be­nen Refor­men ver­bes­sern das Inves­ti­ti­ons­klima in der Ukraine – nicht nur für deut­sche Unter­neh­men. Die ange­strebte EU-Mit­glied­schaft des Landes wäre eine weitere Sicher­heits­ga­ran­tie und ein Anreiz für Inves­to­ren. Auf diese Weise würde der Bedarf an direk­ten Hilfs­zah­lun­gen für den Wie­der­auf­bau sinken.

Eine Her­aus­for­de­rung ist und bleibt der ekla­tante Mangel an Fach­kräf­ten in der Ukraine. Hier könnte die Erfah­rung Deutsch­lands mit dem dualen System der Berufs­aus­bil­dung nütz­lich sein. Die Ukraine muss effek­tive Aus- und Wei­ter­bil­dungs­mög­lich­kei­ten für Erwach­sene schaf­fen, die es bisher nicht gibt. Wün­schens­wert wäre zudem, wenn sich Ukrainer:innen, die nach Deutsch­land geflo­hen sind, dort Fach­kennt­nisse und Fähig­kei­ten aneig­nen, die später beim Wie­der­auf­bau in der Heimat hilf­reich sind.

Hier könnte poten­zi­ell zwar ein Inter­es­sen­kon­flikt mit Deutsch­land ent­ste­hen, wo es an gut aus­ge­bil­de­ten Arbeits­kräf­ten eben­falls mangelt. Der Wie­der­auf­bau in der Ukraine würde sich aber sehr viel schwie­ri­ger und lang­wie­ri­ger gestal­ten, sollten Geflüch­tete nicht zurück­keh­ren. Deutsch­land könnte zudem Pilot­pro­gramme zur dualen Aus­bil­dung im Energie- und Bau­sek­tor auf­le­gen, deren Zer­ti­fi­kate aner­kannt werden. So hätten deut­sche Unter­neh­men bei deutsch-ukrai­ni­schen Wie­der­auf­bau­pro­jek­ten ent­spre­chend qua­li­fi­zier­tes Per­so­nal zur Verfügung.

Fazit: Unter­stüt­zung der Ukraine hilft allen Seiten

Bei der Ent­schei­dung über ein ange­mes­se­nes Ver­hält­nis von mili­tä­ri­scher Unter­stüt­zung und Hilfe beim Wie­der­auf­bau geht es nicht um ein Ent­we­der-Oder, sondern darum, wie sich die Kosten ins­ge­samt mini­mie­ren lassen. Jeder Euro, der in Mili­tär­hilfe und Flug­ab­wehr­sys­teme inves­tiert wird, rettet das Leben tau­sen­der Ukrainer:innen und spart Mil­lio­nen beim Wie­der­auf­bau. Sowohl die mili­tä­ri­sche Unter­stüt­zung der Ukraine als auch die Hilfe beim Schutz kri­ti­scher Infra­struk­tur oder beim lang­fris­ti­gen Wie­der­auf­bau bieten deut­schen Firmen Chancen auf Inves­ti­tio­nen und die Schaf­fung von Arbeitsplätzen.

 

Aus dem Ukrai­ni­schen von Beatrix Kersten

Geför­dert durch Stra­te­gic Com­mu­ni­ca­ti­ons and Advo­cacy Lab

Portrait Betliy

Olek­san­dra Betliy ist seit 2002 Leading rese­arch fellow am “Insti­tute for Eco­no­mic Rese­arch and Policy Con­sul­ting” in Kyjiw.

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