Die Geschlech­ter­ste­reo­type auf dem ukrai­ni­schen Arbeits­markt ändern sich, aber nur langsam

© Kut­senko Volo­dymyr /​ Shut­ter­stock

Die Gleich­be­rech­ti­gung von Frauen und Männern ist in der Ukraine noch lange nicht überall gewähr­leis­tet. Aber Fort­schritte sind unüber­seh­bar. Auch der Krieg fördert die Eman­zi­pa­tion. Von Hanna Hrytsenko

Beinahe 60 Prozent der Ukrai­ner unter­schei­den Berufe wei­ter­hin in „weib­li­che“ und „männ­li­che“. Dies geht aus einer aktu­el­len Studie der Agentur Info­Sa­pi­ens im Auftrag des Bevöl­ke­rungs­fonds der Ver­ein­ten Natio­nen hervor. Zudem emp­feh­len 21 Prozent der Eltern ihren Kindern die Wahl eines Berufes nach geschlechts­spe­zi­fi­schen Merk­ma­len. Dennoch sind enga­gierte ukrai­ni­sche Frauen dabei, diesen Zustand zu verändern.

Artikel 24 der ukrai­ni­schen Ver­fas­sung garan­tiert die recht­li­che Gleich­heit von Mann und Frau und zugleich den Schutz von Mut­ter­schaft und Kind­heit. Es ist wenig ver­wun­der­lich, dass diese Tat­be­stände in der Praxis in einen Kon­flikt mit­ein­an­der geraten, der über­dies bereits seit sowje­ti­schen Zeiten zu beob­ach­ten ist.

Schutz der Mut­ter­schaft in der Sowjetunion

Die Eman­zi­pa­tion der Frauen, die in den Anfangs­jah­ren der Sowjet­union ihren Platz hatte, wurde schnell revi­diert, und an ihre Stelle trat die Logik der Aus­beu­tung mensch­li­cher Res­sour­cen zuguns­ten eines mili­tä­risch-auto­ri­tä­ren Staates. Nachdem sie im Zweiten Welt­krieg eine exor­bi­tante Menge mensch­li­cher Res­sour­cen ver­braucht hatte, begann die sowje­ti­sche Obrig­keit Maß­nah­men zur Sti­mu­lie­rung der Gebur­ten­rate und zum „Schutze von Mut­ter­schaft und Kind­heit“ zu ent­wi­ckeln. So waren Abtrei­bun­gen bis 1955 ver­bo­ten, und danach waren die Mög­lich­kei­ten, sie vor­neh­men zu lassen, immer­hin stark erschwert. Ver­hü­tung und Sexu­al­auf­klä­rung waren fak­tisch nicht gegeben.

Der „Schutz der Mut­ter­schaft“ schlug sich auch in der Ein­füh­rung von Rechts­nor­men nieder, die das Recht der Frau auf Berufs­tä­tig­keit beschnit­ten. In den 1970er Jahren wurden Normen in das Arbeits­ge­setz­buch der Sowjet­re­pu­bli­ken ein­ge­führt, die Frauen die Aus­füh­rung „schwe­rer“ und „gefähr­li­cher“ Arbei­ten zum Zwecke des Schut­zes ihrer repro­duk­ti­ven Anlagen ver­bo­ten. Unter­schied­li­che Bil­dungs­pro­gramme für Jungen und Mädchen im Werk­kun­de­un­ter­richt oder bei der Vor­be­rei­tung auf Dienst­tä­tig­kei­ten sorgten für zusätz­li­che Fes­ti­gung von Ste­reo­ty­pen über weib­li­che und männ­li­che Arbeit.

450 Berufe für Frauen verboten

Die sowje­ti­schen Tra­di­tio­nen und Gewohn­hei­ten wirken bis heute fort. In das dritte Jahr­tau­send ist die Ukraine als ein Land ein­ge­tre­ten, in dem Frauen ca. 450 Berufe ver­bo­ten sind. Das ukrai­ni­sche Arbeits­ge­setz­buch bestimmt u.a., dass „der Einsatz von Frauen für schwere Arbei­ten oder solche unter schäd­li­chen und gefähr­li­chen Bedin­gun­gen, sowie für Arbei­ten unter Tage, abge­se­hen von einigen Aus­nah­men (nicht-phy­si­sche Arbeit, sani­täre Arbeit oder all­tags­ty­pi­sche Dienst­leis­tun­gen), ver­bo­ten [ist]. Ver­bo­ten ist über­dies die Hin­zu­zie­hung von Frauen zum Anheben oder zum Ver­schie­ben von Sachen, deren Masse die für sie fest­ge­leg­ten zuläs­si­gen Normen überschreitet“.

Die erwähn­ten Grenz­werte, inner­halb derer das Anheben und das Ver­schie­ben von Sachen für Frauen zuläs­sig ist, bewegen sich in einem Bereich von 7 bis 10 Kilo­gramm, was etwa dem Gewicht eines Kindes und somit dem ent­spricht, was eben jene Mütter täglich umher­schlep­pen, deren Inter­es­sen auf diese Weise angeb­lich geschützt werden.

Die Praxis in der unab­hän­gi­gen Ukraine unter­schei­det sich jedoch von dem, was von der sowje­ti­schen Regie­rung vor­ge­se­hen war. Frauen können ihnen ver­bo­tene Arbei­ten inof­fi­zi­ell ausüben, wobei sie weniger Geld (nicht selten um ein Drittel weniger) als Männer verdienen.

Anschluss an die Moderne – Die Armee als Avantgarde

Zu Beginn der 1990er Jahre ist in der Ukraine eine femi­nis­ti­sche Bewe­gung ent­stan­den, die nach und nach an Fahrt auf­nimmt. Zu den all­jähr­li­chen Mär­schen am 8. März gehen in den Städten der Ukraine mehr und mehr Frauen mit unter­schied­li­chen For­de­run­gen auf die Straße. Unter ihnen sind Frauen mit Behin­de­run­gen, Trans­frauen, Sex­ar­bei­te­rin­nen und Romnija. Her­kömm­li­che Geschlech­ter­rol­len ver­lie­ren unter dem Druck neuer gesell­schaft­li­cher Her­aus­for­de­run­gen immer mehr an Aktualität.

Schon während des Euro­mai­dan bestand beinahe die Hälfte der Teil­neh­men­den aus Frauen, und seit Beginn des rus­sisch-ukrai­ni­schen Krieges im Jahr 2014 sind Frauen an der Front und in der Politik aktiv geworden.

Die Phi­lo­so­phin Tamara Slobina nennt diesen Prozess „Zerfall des Gender“ – die typi­sche Rolle der weib­li­chen Arbeits­kraft, die sich nach der Arbeit um den hei­mi­schen Herd kümmert, stirbt gemein­sam mit anderen ste­reo­ty­pen Rollen langsam aus und macht Platz für die Eman­zi­pa­tion der Frau und ihre Inte­gra­tion in poli­ti­sche und gesell­schaft­li­che Prozesse.

Frauen leisten Kriegs­dienst an der Front und inves­tie­ren ihre Kräfte in die Stär­kung der Armee. Die öffent­li­che Kam­pa­gne „Unsicht­ba­res Batail­lon“, die von weib­li­chen Kriegs­dienst­leis­ten­den 2015 initi­iert wurde, ist in der Gesell­schaft aner­ken­nend auf­ge­nom­men worden und hat zu einem signi­fi­kan­ten Wandel in der Sicht­bar­keit von Frauen bei­getra­gen, die an der Front­li­nie des rus­sisch-ukrai­ni­schen Krieges kämpfen, und ebenso in der Gesetzgebung.

Im Jahr 2018 wurde das Gesetz „Über die Ein­füh­rung von Ände­run­gen an einigen Geset­zen der Ukraine hin­sicht­lich der Gewähr­leis­tung glei­cher Rechte und Mög­lich­kei­ten für Frauen und Männer während der Ableis­tung des Wehr­diens­tes in den Streit­kräf­ten der Ukraine und anderen mili­tä­ri­schen For­ma­tio­nen“ ver­ab­schie­det. Das Gesetz festigt das Rah­men­prin­zip der Gleich­heit, unter anderem dahin­ge­hend, dass Frauen den Wehr­dienst zu den­sel­ben Kon­di­tio­nen durch­lau­fen wie Männer, was etwa die Auf­nahme in den Dienst per Vertrag, die Beför­de­rung in bestimmte Ränge, die Aus­zeich­nung mit Ver­dienst­ab­zei­chen und die Aus­füh­rung mili­tä­ri­scher Auf­ga­ben betrifft.

Eine unmit­tel­bare Folge der Kam­pa­gne war auch die Auf­he­bung der Ver­ord­nung Nr. 256 durch das Gesund­heits­mi­nis­te­rium im Dezem­ber 2017, in dem die 450 Berufe auf­ge­führt wurden, die bis dato für Frauen ver­bo­ten waren. Im Jahr 2019 wurden erst­mals Frauen an Mili­tär­aka­de­mien zuge­las­sen, und die Kyjiwer Iwan-Bohun-Mili­tär­aka­de­mie kann bereits erste Absol­ven­tin­nen vor­wei­sen. Nach Stand 2021 arbei­ten bzw. dienen bei den Streit­kräf­ten der Ukraine unge­fähr 57.000 Frauen, von denen 31.000 mili­tä­ri­sche Ränge inne­ha­ben. Der Anteil der Frauen unter den an Kampf­ein­sät­zen Betei­lig­ten beträgt 16 Prozent, ihr Anteil unter den zivilen Ange­stell­ten 54 Prozent, und ins­ge­samt machen sie 22 Prozent der Streit­kräfte aus. Die Polizei ist zu 25 Prozent mit Frauen besetzt.

@Verteidigungsministerium der Ukraine
@Verteidigungsministerium der Ukraine

Foto: Ver­tei­di­gungs­mi­nis­te­rium der Ukraine

Frauen in moder­nen Berufen und in der Politik

Klas­si­sche und gut­be­zahlte Män­ner­do­mä­nen wie die IT-Branche wachsen in der Ukraine rasant. Laut Umfra­ge­er­geb­nis­sen des größten IT-Portals der Ukraine DOU, steigt der Anteil der Frauen in der IT-Sphäre bestän­dig. Zwi­schen 2017 und 2020 ist er von 20 Prozent auf 25 Prozent gestie­gen. In dieser Branche exis­tiert eben­falls die typi­sche Tren­nung zwi­schen männ­li­chen und weib­li­chen Tätig­kei­ten. So arbei­ten etwa Frauen inner­halb der IT-Branche haupt­säch­lich im Mar­ke­ting oder im Bereich Human Res­sour­ces. Im Bereich Qua­li­täts­si­che­rung machen Frauen nur ein Drittel aus und im Manage­ment und der Sys­tem­ad­mi­nis­tra­tion stellen Männer eine Mehr­heit von 90 Prozent. Der durch­schnitt­li­che Ein­kom­mens­un­ter­schied in dieser Branche beträgt 75 Prozent.

Bestän­dig wächst auch die Anzahl der Frauen in der Politik, so etwa die der Abge­ord­ne­ten der Wer­chowna Rada. In der lau­fen­den Legis­la­tur­pe­ri­ode ist ihr Anteil so groß wie nie zuvor und beträgt 20 Prozent. Bei den Regio­nal­wah­len 2020 kam erst­mals eine Geschlech­ter­quote zur Anwen­dung, die einen Anteil von nicht weniger als 40 Prozent von Per­so­nen eines Geschlechts und ein Ver­hält­nis von zwei zu drei Per­so­nen unter­schied­li­chen Geschlechts auf fünf Lis­ten­plätze vorsieht.

Ori­gi­nal Info­gra­fik: Слово і діло

Dennoch ist weder das mili­tä­ri­sche noch das zivile Berufs­um­feld derzeit beson­ders frau­en­freund­lich.  Das Miss­ver­hält­nis des Brut­to­stun­den­ver­diens­tes zwi­schen Frauen und Männern beträgt offi­zi­el­len Daten zufolge 25 Prozent. Im Arbeits­ge­setz­buch ist die gleiche Bezah­lung von Männern und Frauen nicht festgeschrieben.

Frauen beset­zen gegen­wär­tig weniger als ein Viertel der Füh­rungs­po­si­tio­nen im Land. 

Sexu­elle Belästigung

Eben­falls unzu­rei­chend gesetz­lich regu­liert ist der Schutz der Frauen vor sexu­el­ler Beläs­ti­gung. Artikel 1 des Geset­zes der Ukraine „Über die Gewähr­leis­tung glei­cher Rechte und Mög­lich­kei­ten für Frauen und Männer“ defi­niert sexu­elle Beläs­ti­gung als „Hand­lun­gen sexu­el­len Cha­rak­ters [...] welche Per­so­nen ernied­ri­gen oder belei­di­gen, die sich in einem Ver­hält­nis der dienst­li­chen, werks­mä­ßi­gen oder einer anderen mate­ri­el­len Unter­ord­nung befinden“.

Jedoch kann die Beläs­ti­gung auch von einer Person aus­ge­hen, die keine Füh­rungs­po­si­tion innehat, sondern in der jewei­li­gen Orga­ni­sa­tion über den­sel­ben Status verfügt, wie die Betrof­fene. Diesen Fall umfasst das Gesetz derzeit jedoch nicht. Wegen der feh­len­den Schutz­me­cha­nis­men vor Beläs­ti­gung und Dis­kri­mi­nie­rung am Arbeits­platz ist die Frau gezwun­gen, diese über sich ergehen zu lassen oder zu kün­di­gen. Das ist einer der Gründe, der Frauen bisher davon abge­hal­ten hat, sich in einem männ­li­chen Umfeld zu betä­ti­gen und eine Kar­riere in solchen Berufen anzu­stre­ben, die als klas­sisch männ­lich ein­ge­ord­net werden.

Zur Über­win­dung der sowje­ti­schen Ste­reo­type braucht es Zeit, doch eine Arbeits­markt­re­form könnte diesen Prozess beschleu­ni­gen. Die Aus­ar­bei­tung und Imple­men­ta­tion von legis­la­ti­ven Ver­än­de­run­gen, die Gleich­heit, Anti­dis­kri­mi­nie­rung und gegen sexu­elle Beläs­ti­gung gerich­tete Maß­nah­men fördern, ist das, was die Ukraine jetzt braucht.

Textende

photo Hrytsenko rund

Hanna Hryt­senko ist Sozio­lo­gin, unab­hän­gige Wis­sen­schaft­le­rin rechts­extre­mer Bewe­gun­gen und Genderforscherin.

 

 

 

 

 

 

 

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