Front­li­ner-Geschich­ten: Vom Krieg und seinen Men­schen – von Ukrai­nern erzählt

Andriy Dubchak, Frontliner
Andriy Dubchak, Pisky, Region Donezk, 2020. Foto: Marian Kushnir

In Kriegs­zei­ten gibt es viele Men­schen, die sich als Kriegs­be­richt­erstat­ter bezeich­nen: Die Front­li­nie zieht ebenso viele Aben­teu­rer an wie Sol­da­ten, huma­ni­täre Helfer und Jour­na­lis­ten. In diesem Zusam­men­hang kann es schwie­rig sein, ver­trau­ens­wür­dige Infor­ma­ti­ons­quel­len zu finden. In den letzten Jahren aber haben einige ukrai­ni­sche Initia­ti­ven die Nach­rich­ten von der Front­li­nie in den Vor­der­grund gerückt, nicht nur für die Ukrai­ner, sondern für die ganze Welt: Es sind jene Repor­ter, die als Front­li­ner arbei­ten, unter der Leitung des ukrai­ni­schen Foto­gra­fen Andriy Dubchak.

Wenn Sie sich für die Nach­rich­ten aus der Ukraine inter­es­sie­ren, sind Sie wahr­schein­lich schon auf seine Bilder und die anderer Front­li­ner-Foto­gra­fen gesto­ßen, und viel­leicht kennen Sie Front­li­ner bereits aus den sozia­len Medien oder von ihrer Website.

Nach dem Maidan: eine neue Vision für die Kriegsberichterstattung

Weit weg von der Front, in der rela­ti­ven Nor­ma­li­tät von Kyjiw treffen wir Gründer Andriy Dubchak und Geschäfts­füh­re­rin Yeli­za­veta Kovtun. Dubchak ist gerade aus Kurak­hove zurück­ge­kehrt, das im Zentrum der Kämpfe in der Region Donezk liegt.

Andriy Dubchak
Andriy Dubchak im ukrai­ni­schen Front­dorf Pisky in der Region Donezk, 30. Juli 2021.
Foto: Steve Andre

Der aus Win­nyzja stam­mende Dubchak grün­dete die Mul­ti­me­dia-Platt­form, die sich der ukrai­ni­schen Kriegs­be­richt­erstat­tung widmet, nach einer langen Kar­riere bei Radio Free Europe. Dort war er in den Anfän­gen der sozia­len Medien für alle digi­ta­len Ange­le­gen­hei­ten zustän­dig. Er begann, sich für die Ent­wick­lung einer eigenen Bericht­erstat­tung zu inter­es­sie­ren und war der erste Strea­mer der Maidan-Revo­lu­tion im Novem­ber 2013. Das war der Zeit­punkt, an dem sich ein Wandel vollzog; Andriy erin­nert sich an die töd­lichs­ten Tage der Revo­lu­tion: „Ich war Zeuge der dun­kels­ten Tage der Revo­lu­tion der Würde, als Scharf­schüt­zen im Februar 2014 in die Menge schos­sen. Im Anschluss daran ging ich in die Lei­chen­hal­len und sah, wie sich Mütter schrei­end und weinend über die Leichen ihrer Kinder beugten. In dieser Zeit hörte ich zum ersten Mal den Spruch ‚Helden sterben nie‘. Doch natür­lich tun sie das, sie sterben. Ich hasse diesen Spruch seither.“

Im Jahr 2015 ging Andriy Dubchak zum ersten Mal als Foto­graf an die Front: „Mir wurde klar, dass wir für solche Her­aus­for­de­run­gen nicht bereit sind: Das Auto war in einem schlech­ten Zustand, wir hatten kein Satel­li­ten­te­le­fon, kein Inter­net ... solche Fehler können an der Front das Leben kosten. Nach diesem ersten Erleb­nis fasste ich die Idee, zukünf­tige solcher Ein­sätze mit erst­klas­si­ger Aus­rüs­tung vorzubereiten.“

In den nächs­ten Jahren suchte Dubсhak zusam­men mit seiner Arbeits- und Lebens­ge­fähr­tin Yeli­za­veta Kovtun nach einer Finan­zie­rung. Schließ­lich stellte die Renais­sance Foun­da­tion und das Crowd­fun­ding ihnen genü­gend Mittel bereit, um Front­li­ner zu gründen. Sein Bruder stellte ein altes Auto zur Ver­fü­gung und mit einer bes­se­ren Aus­stat­tung begann Andriy 2021 regel­mä­ßig von der Front zu berich­ten. Seine Nähe zu ver­schie­de­nen Bri­ga­den ver­schaffte ihm einen Zugang, den andere Redak­tio­nen nicht bekom­men konnten; Nach­rich­ten­agen­tu­ren wie Asso­cia­ted Press und Reuters began­nen, seine Arbei­ten zu ver­öf­fent­li­chen, ebenso wie die New York Times, für die er als Fixer arbei­tete, bevor er Pro­du­zent und Foto­graf wurde.

Bericht­erstat­tung trotz Angst und erleb­tem Schrecken

Als die Voll­in­va­sion begann, gestand Dubchak, dass er dachte, Kyjiw würde fallen. Dennoch war sein erster Schritt, Kaffee und Ziga­ret­ten vor­zu­be­rei­ten: „Ich wusste, dass viel los sein würde und dass es viel zu tun geben würde.“ In dieser Zeit expan­dierte Front­li­ner, arbei­tete mit bis zu 15 Kor­re­spon­den­ten, die aus dem ganzen Land berich­te­ten und erhöhte die Anzahl der Berichte. Man kann mit Fug und Recht behaup­ten, dass die letzten zwei­ein­halb Jahre für die Ukrai­ner einem Wir­bel­sturm glichen – das trifft in beson­de­rer Weise für die­je­ni­gen zu, die regel­mä­ßig in Kampf­ge­bie­ten arbeiten.

Andriy Dubchak und Taras Ibragimov
Andriy Dubchak mit Taras Ibrag­i­mov (Suspilne.Novyny) in der Artil­le­rie­stel­lung bei Bachmut, Region Donezk. Sommer 2023. Autor: Pres­se­of­fi­zier der 30. mecha­ni­sier­ten Brigade Ana­to­lii Yavorskyi

Dubchak, der sich im Laufe der Jahre zu einem der ange­se­hens­ten Kriegs­fo­to­gra­fen des Landes ent­wi­ckelt hat, erin­nert sich an einige ent­schei­dende Momente:

„Es gibt glück­li­che Momente, wie die Befrei­ung von Cherson, ältere Frauen, die vor Glück und Erleich­te­rung weinen, ukrai­ni­sche Sol­da­ten, die mit ihnen weinen... Es gibt viele solcher Momente. Und dann gibt es andere, die schreck­lich sind und die ich nie ver­ges­sen werde. Ich erin­nere mich zum Bei­spiel an einen Mör­ser­an­griff in Irpin, bei dem eine ganze Familie ums Leben kam. Ich erin­nere mich deut­lich an den Jungen, dem das Blut aus dem Mund lief, während sich sein Gesicht langsam gelb­lich färbte. Zwei Tage später musste ich an die­selbe Stelle zurück­keh­ren. Unter­wegs kroch die Angst in mir hoch, aber, um sie zu über­win­den und nicht doch noch umzu­keh­ren, begann ich zu scher­zen. Ich wusste, dass ich sonst nicht in der Lage sein würde, zu berich­ten. Ich erin­nere mich sehr gut an diesen Moment. Aber wir Jour­na­lis­ten sind wie Medi­zi­ner, wir müssen uns daran erin­nern, wofür wir das tun. Wenn man erst einmal Hun­derte von Toten gesehen hat, defor­miert einen das. Es ist eine Art pro­fes­sio­nelle Defor­mie­rung – man gewöhnt sich daran, weil man weiß, dass man filmen, die Geschichte erzäh­len und ablie­fern muss.“

In Bachmut unter Beschuss geraten

Die Arbeit für Front­li­ner liegt in der Familie: Im Jahr 2022, im Alter von 18 Jahren, erklärte Danylo Dubchak, der Sohn von Andriy, dass auch er Foto­graf werden wolle. Trotz seiner Jugend bemüht er sich, über einige ent­schei­dende Momente des rus­si­schen Angriffs­krie­ges gegen die Ukraine zu berich­ten – einem Land, das er stets nur als unab­hän­gi­ges Land erlebt hat. In Kyjiw arbei­tete er nach der Bom­bar­die­rung des Och­mat­dyt-Kin­der­kran­ken­hau­ses vor Ort und er doku­men­tiert regel­mä­ßig Beer­di­gun­gen von gefal­le­nen Soldaten.

Danylo Dubchak
Danylo Dubchak, Region Donezk, 24.10.2024
Foto: Albina Karman/​Frontliner.

Als Danylo an die Front gehen wollte, hielt Andriy Dubchak es für siche­rer, seinen Sohn zu einem seiner eigenen Ein­sätze mit­zu­neh­men. Zu diesem Zeit­punkt wurden Vater und Sohn, die hier über den Krieg berich­ten wollten, von rus­si­scher Streu­mu­ni­tion getrof­fen. Andriy erin­nert sich: „Ich bin zum Auto zurück­ge­gan­gen, um weitere Bat­te­rien zu holen, als der Beschuss begann. Zum ersten Mal hörte ich Streu­mu­ni­tion aus so kurzer Ent­fer­nung. Alles, woran ich denken konnte, war mein Sohn, während ich unter den Bomben auf ihn zulief.“

Wie durch ein Wunder über­leb­ten beide den Angriff, wobei Andriy eine leichte Bein­ver­let­zung erlitt. Ihr Auto hatte drei Reifen ver­lo­ren, aber sie schaff­ten es sicher zurück, sagt Andriy und fügt mit einem Lächeln hinzu: „Deshalb arbeite ich nicht gerne mit der Familie.“

Ande­rer­seits ist diese Ver­bin­dung auch Teil von Front­li­ner: Andriy und Yeli­za­veta bauen trotz des Krieges eine Familie auf. Und genau das ist irgend­wie auch Teil dessen, was sie der Welt durch ihre Berichte zeigen wollen – jen­seits der All­ge­gen­wart des Todes: den Hoff­nungs­schim­mer und die Mensch­lich­keit, die sich ihrer Meinung nach in jedem Aspekt dieses Krieges finden lässt.

Portrait von Emmanuelle Chaze

Emma­nu­elle Chaze lebt in Kyjiw und arbei­tet als Ukraine-Kor­re­spon­den­tin unter anderem für Radio France Inter­na­tio­nale, France24 und Ouest-France.

 

 

 

 

 

 

 

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