Drei Ele­mente einer euro­päi­schen Ukrainestrategie

Foto: IMAGO /​ SOPA Images

Auch nach einem Jahr hek­ti­scher Diplo­ma­tie, haben sich Ende 2025 die Kriegs­ziele Moskaus und Kyjiws kaum geän­dert. Europa – zuneh­mend auf sich alleine gestellt – hat weder ein gemein­sa­mes Kriegs­ziel noch eine klare Vor­stel­lung davon, wie es zu errei­chen wäre.

Was wäre ein akzep­ta­bler Kriegs­aus­gang für die Ukraine und Europa?

Ein erstes Element in einer euro­päi­schen Stra­te­gie wäre ein Kriegs­ziel, das euro­päi­sche Regie­run­gen mit Kyjiw teilen.

Die Ukraine musste sich von Anfang an gegen zwei Arten, den Krieg zu ver­lie­ren, wehren. Die erste Mög­lich­keit ist, dass Russ­land die Ukraine mili­tä­risch unter­wirft und sie sich seiner Ein­fluss­sphäre ein­ver­leibt. Die zweite Mög­lich­keit ist, dass die Ukraine sich zwar mili­tä­risch behaup­tet, aber unter dem Druck dieser Anstren­gung ihre Demo­kra­tie einbüßt. Auch durch eine Erosion demo­kra­ti­scher Struk­tu­ren wäre der Ukraine die euro-atlan­ti­sche Inte­gra­tion ver­wehrt. Mit­tel­fris­tig würde das Land wieder in Rich­tung Moskau driften.

Gegen­über beiden Gefah­ren hat sich die Ukraine bislang bemer­kens­wert geschla­gen. Anfang 2022 hat sie, mit einer deut­lich unter­le­ge­nen Armee, rus­si­sche Truppen vor den Toren Char­kiws und Kyjiws ver­trie­ben und im Herbst des ersten Kriegs­jah­res große Gebiete zurück­er­obert. Ohne eigene Kriegs­schiffe hat die Ukraine die rus­si­sche Flotte weit­ge­hend aus dem Schwar­zen Meer ver­drängt. Hinter der Front hat sie sich an ein bestän­di­ges Bom­bar­de­ment ihrer Ener­gie­infra­struk­tur ange­passt. Seit 2023 hat die ukrai­ni­sche Armee trotz rie­si­ger Per­so­nal­pro­bleme das rus­si­sche Vor­an­kom­men im Osten und Süden des Landes in eine lang­same und sehr kost­spie­lige Abnut­zungs­schlacht verwandelt.

Während Sol­da­ten an der Front kämpfen, sorgt die ukrai­ni­sche Zivil­ge­sell­schaft – mit west­li­cher Unter­stüt­zung – im Hin­ter­land dafür, dass die Regie­rung nicht mehr Macht an sich reißt, als es der Ver­tei­di­gungs­fall erfor­dert. Die Zivil­ge­sell­schaft und die Medien wirkten wie­der­holt als Kor­rek­tiv zur kriegs­be­ding­ten Macht­kon­zen­tra­tion bei der Regie­rung: Sie halfen etwa im Sommer 2025, die Unab­hän­gig­keit der Anti­kor­rup­ti­ons­be­hör­den zu erhal­ten, Kor­rup­tion im Beschaf­fungs­we­sen der Armee auf­zu­de­cken oder blo­ckier­ten 2022 ein Gesetz, das im Schat­ten des Krieges die Kom­mu­nen bei der Woh­nungs­bau­po­li­tik ent­mach­tet hätte.

Für Wla­di­mir Putin ist ein Nach­bar­land, in dem die Zivil­ge­sell­schaft echte Oppo­si­tion betreibt, ein unbe­que­mes Gegen­mo­dell zu seinem auto­ri­tä­ren Stil. Auf welche Weise dieses Demo­kra­tie­ex­pe­ri­ment schei­tert – durch eine mili­tä­ri­sche Nie­der­lage oder durch eine auto­ri­täre Macht­über­nahme – ist im Kreml nur eine Frage der Kosten. Eine mili­tä­ri­sche Nie­der­lage her­bei­zu­füh­ren, kostet mehr Geld und mehr Soldatenleben.

Diese hohen Kosten haben den Kreml bisher nicht dazu gebracht, seine Kriegs­ziele zu revi­die­ren. Die rus­si­schen For­de­run­gen waren 2025 die­sel­ben wie im Früh­jahr 2022, als rus­si­sche Truppen noch vor Kyjiw standen. Russ­land fordert zwar Gebiets­ab­tre­tun­gen im Osten der Ukraine, zielt aber vor allem darauf ab, die Sou­ve­rä­ni­tät der ganzen Ukraine zu unter­gra­ben und eine stän­dige Mit­be­stim­mung Moskaus in der ukrai­ni­schen Politik zu errei­chen. So soll die Ukraine künftig nur eine kleine Armee haben dürfen, end­gül­tig auf einen NATO-Bei­tritt ver­zich­ten, und Russ­land soll bei Sicher­heits­ga­ran­tien mit­ent­schei­den können.

Wenn es der Ukraine gelingt, sich gegen diese For­de­run­gen durch­zu­set­zen, ihre Sou­ve­rä­ni­tät zu wahren und als Demo­kra­tie zu über­le­ben, ist der Kriegs­aus­gang ein Erfolg für Kyjiw – und eine Nie­der­lage für Moskau. Ein für die Ukraine akzep­ta­bler Kriegs­aus­gang bemisst sich daher erst einmal nicht in Qua­drat­ki­lo­me­tern, sondern im Ausmaß der poli­ti­schen Ent­schei­dun­gen, die sie auch nach dem Krieg sou­ve­rän treffen kann.

Schritt­weise zu einem nach­hal­ti­gen Frieden

Ein zweites Element in einer Stra­te­gie für die Ukraine wäre ein Ver­ständ­nis zwi­schen Kyjiw und seinen euro­päi­schen Part­nern, welche Schritte zum gemein­sa­men Kriegs­ziel führen. In welcher Rei­hen­folge sollen Europa und die Ukraine ver­su­chen, einen Waf­fen­still­stand her­bei­zu­füh­ren, ein Frie­dens­ab­kom­men zu ver­han­deln, Sicher­heits­ga­ran­tien zu geben und Wahlen abzuhalten?

Der Kreml weiß genau, dass eine demo­kra­tisch ver­fasste Ukraine in der jet­zi­gen Lage nicht direkt zu einem Frie­dens­schluss vor­spu­len kann. Die von Putin gefor­der­ten Zuge­ständ­nisse – Gebiets­ab­tre­tun­gen und der end­gül­tige Ver­zicht auf eine NATO-Mit­glied­schaft – erfor­dern Ver­fas­sungs­än­de­run­gen. Dafür bräuch­ten Regie­rung und Par­la­ment in der Ukraine ein starkes Mandat. Dieses kann nur durch Par­la­ments- und Prä­si­dent­schafts­wah­len ent­ste­hen, in denen die Bevöl­ke­rung zwi­schen ver­schie­de­nen Visio­nen einer Nach­kriegs­ukraine wählen kann.

Doch solange das Kriegs­recht gilt, sind Wahlen nicht möglich. Um es auf­zu­he­ben, bräuchte die Ukraine zumin­dest einen sta­bi­len Waf­fen­still­stand. Nur ein solcher würde der Regie­rung erlau­ben, durch Wahlen ein Mandat für mög­li­che Zuge­ständ­nisse zu erhal­ten. In der ukrai­ni­schen Bevöl­ke­rung mangelt es nicht an Kom­pro­miss­be­reit­schaft. Umfra­gen zeigen, dass Ukrai­ne­rin­nen und Ukrai­ner zwar nicht zu der von Russ­land gefor­der­ten Kapi­tu­la­tion bereit sind, ein Ein­frie­ren der Front­li­nie im Aus­tausch für belast­bare Sicher­heits­ga­ran­tien jedoch viele als akzep­ta­blen Kriegs­aus­gang ansehen. Das heißt, dass mit der rich­ti­gen Sequenz von Schrit­ten, die mit einem Waf­fen­still­stand beginnt und mit Wahlen endet, ein Ende der Gewalt erreicht werden könnte. Das geht aller­dings nur, wenn auch Russ­land seine Kriegs­ziele revidiert.

Eine klare Rollenverteilung

Um einen solchen Fahr­plan zum Frieden gegen­über Russ­land durch­zu­set­zen, muss Europa helfen, die Kosten-Nutzen-Kal­ku­la­tion des Kremls in diesem Krieg zu ver­schie­ben. Moskau trägt bereits hohe Kosten, auch wenn es die ersten drei Kriegs­jahre mit einer robus­ten Wirt­schaft über­stan­den hat. Nun steuert Russ­land auf eine Stag­fla­tion zu, die Wohl­stands­ver­luste für viele Haus­halte und prekäre Aus­sich­ten für Unter­neh­men mit sich bringt. Auch wenn das keinen bevor­ste­hen­den Kollaps der rus­si­schen Wirt­schaft bedeu­tet, ist es ein guter Moment für Europa, die Krise zu beschleu­ni­gen und Moskau durch kon­se­quent umge­setzte Sank­tio­nen von seinen Ein­nah­me­quel­len abzuschneiden.

Ein wei­te­rer Bereich, in dem Europa die Ukraine noch viel stärker unter­stüt­zen könnte, sind Tie­fen­schläge auf Russ­lands Waf­fen­fa­bri­ken, Kriegs­lo­gis­tik und Ölin­dus­trie. Wenn so für Moskau die Kriegs­kos­ten steigen, ohne dass das Ziel – die Unter­wer­fung der Ukraine – näher rückt, wird Moskau irgend­wann ver­han­deln müssen, dann jedoch unter Bedin­gun­gen, die von der Ukraine und ihren Part­nern bestimmt werden.

Das geht nur, wenn Europa seine Rolle als Partner der Ukraine stärker durch Inves­ti­tio­nen in seine Sicher­heit unter­streicht und so auch unab­hän­gi­ger von den zuneh­mend unbe­re­chen­ba­ren USA wird. Ein bedeu­ten­der Teil dieser Inves­ti­tio­nen sollte in die Ukraine fließen, wo Waffen bil­li­ger und schnel­ler her­ge­stellt werden können. In einem Krieg, der rasante tech­ni­sche Ent­wick­lun­gen vor­an­treibt, könnte eine engere Zusam­men­ar­beit mit der Ukraine dafür sorgen, dass Inno­va­tio­nen vom Schlacht­feld und Inves­ti­tio­nen aus Europa schnell zuein­an­der­fin­den. So könnten tech­ni­sche Ent­wick­lun­gen von der Front rasch in die Mas­sen­pro­duk­tion über­ge­hen. In der Ska­lie­rung der Pro­duk­tion ist Russ­lands über­mäch­tige Indus­trie zurzeit nämlich noch deut­lich schnel­ler. Europa würde gleich­zei­tig Erkennt­nisse gewin­nen, die in mili­tä­ri­sche Aus­bil­dung, poli­ti­sche Ent­schei­dun­gen und Indus­trie­po­li­tik ein­flie­ßen könnten.

Nicht nur muss Europa seine Rolle als Partner der Ukraine klarer umrei­ßen, es sollte auch deut­li­cher machen, welche Rolle Russ­land zukommt. Damit ein Ende der Gewalt nach­hal­tig bleibt, muss Moskau die Rolle des geschei­ter­ten Aggres­sors bekom­men. Bislang sieht sich der Kreml ganz im Gegen­teil als künf­tige Regio­nal­macht, in deren Ein­fluss­be­reich die Ukraine ein unver­zicht­ba­rer Bestand­teil wäre. Europas Ver­su­che, Russ­land in die Schran­ken zu weisen, bleiben meist rhe­to­risch. Poli­ti­ker reagie­ren empört, wenn Moskau ein Veto­recht über Sicher­heits­ga­ran­tien fordert (wie es das seit den geschei­ter­ten Ver­hand­lun­gen in Istan­bul im Früh­jahr 2022 tut), ermög­li­chen aber durch ihre Vor­sicht genau das. Eine Gruppe von mehr als 20 euro­päi­schen Ländern, die sich „Koali­tion der Wil­li­gen“ nennt, signa­li­sierte 2025 Bereit­schaft, Truppen in die Ukraine zu ent­sen­den – jedoch erst, wenn Putin einem Waf­fen­still­stand zustimmt. Der Kreml legt sein Veto ein, indem er einfach weiterkämpft.

Um Moskau seine Rolle zuzu­wei­sen, braucht Europa mehr Risi­ko­be­reit­schaft. Russ­land bleibt gefähr­lich, schei­tert aber seit fast vier Jahren daran, die Ukraine zu besie­gen. Europa sollte seine Risi­ko­kal­ku­la­tion ent­spre­chend anpas­sen und die Ukraine vor­be­halt­lo­ser unter­stüt­zen. Mit einem deut­lich for­mu­lier­ten Kriegs­ziel, einem Fahr­plan, der dorthin führt, und einer klaren Rol­len­ver­tei­lung in Europa hätten die Regie­run­gen eine gute Argu­men­ta­ti­ons­ba­sis gegen­über ihren Wäh­le­rin­nen und Wählern, die dieses Risiko mit­tra­gen müssen.

Portrait von Simon Schlegel

Simon Schle­gel leitet seit Anfang 2025 das Ukraine-Pro­gramm beim Zentrum Libe­rale Moderne.

Ver­wandte Themen

News­let­ter bestellen

Tragen Sie sich in unseren News­let­ter ein und bleiben Sie auf dem Laufenden.

Mit unseren Daten­schutz­be­stim­mun­gen erklä­ren Sie sich einverstanden.