Die Beschlag­nah­mung ein­ge­fro­re­ner rus­si­scher Ver­mö­gens­werte ist recht­mä­ßig und dringlich

Foto: Ludvig14, wikipedia.org

Die EU ris­kiert, die ein­ge­fro­re­nen Ver­mö­gens­werte Russ­lands zu ver­lie­ren, wenn die Sank­tio­nen dem­nächst aus­lau­fen. Rechts­exper­ten bestä­ti­gen, dass die Über­tra­gung dieser Gelder an die Ukraine recht­mä­ßig ist und die Repa­ra­ti­ons­pflicht Russ­lands durch­set­zen würde. Die Beschlag­nah­mung der Ver­mö­gens­werte könnte das Völ­ker­recht fes­ti­gen und die Ukraine finan­zi­ell und mili­tä­risch stärken. Wird die EU handeln, bevor es zu spät ist?

Kurz nach der Voll­in­va­sion Russ­lands in die Ukraine im Februar 2022 froren die G7-Länder rus­si­sche Zen­tral­bank­gel­der in Höhe von 300 Mil­li­ar­den Dollar in ihren Finanz­in­sti­tu­ten ein. Am 19. Mai 2023 einig­ten sich die G7-Staaten in einer Erklä­rung darauf, dass „Russ­lands Staats­ver­mö­gen in unseren Staats­ge­bie­ten so lange blo­ckiert bleiben, bis Russ­land für den Schaden, den es der Ukraine zuge­fügt hat, auf­kommt“. Es ist zwar unklar, ob die USA diese Ver­pflich­tung ein­zu­hal­ten geden­ken, aber der Groß­teil dieser ein­ge­fro­re­nen Reser­ven befin­det sich in Europa – somit liegt die Ent­schei­dung über diese Ver­mö­gens­werte bei den euro­päi­schen Staaten.

Gleich­zei­tig geht Russ­lands Zer­stö­rung der Ukraine täglich weiter. Der Gesamt­scha­den – im Februar 2025 von der Welt­bank bereits jetzt vor­sich­tig auf 524 Mil­li­ar­den Dollar geschätzt – über­steigt bei weitem die gebun­de­nen Mittel und wird noch weiter steigen.

In den letzten Monaten wurden immer mehr Stimmen laut, die die euro­päi­schen Staaten auf­for­der­ten, die ein­ge­fro­re­nen Ver­mö­gens­werte in einen Fonds für die Ukraine zu über­tra­gen. Dies würde dazu bei­tra­gen, den drin­gen­den Bedarf der Ukraine an huma­ni­tä­rer Hilfe und Wie­der­auf­bau zu decken, ihre Fähig­keit zum Wider­stand gegen die rus­si­sche Aggres­sion zu stärken, die west­li­chen Steu­er­zah­ler zu ent­las­ten, Europa siche­rer zu machen und der Ukraine zumin­dest teil­weise Gerech­tig­keit zu ver­schaf­fen. Dies ist auch für die Frie­dens­ver­hand­lun­gen von ent­schei­den­der Bedeu­tung, da jeder nach­hal­tige Frieden auf Gerech­tig­keit und Rechen­schafts­pflicht beruhen muss.

Welchen Effekt haben Russ­lands Ver­mö­gens­werte für die Ukraine?

Der größte Teil der 300 Mil­li­ar­den Dollar aus Russ­land liegt auf Konten beim bel­gi­schen Wert­pa­pier­ver­wah­rer Euro­clear und bei Kor­re­spon­denz­ban­ken. Ver­schie­dene Länder haben jedoch Ansprü­che auf dieses Geld. Sieben Prozent dieser Summe sind in US-Dollar deno­mi­niert und fallen somit in den Zustän­dig­keits­be­reich der USA. Acht Prozent der Gesamt­summe bestehen aus kana­di­schen Dollar, 16 Prozent aus bri­ti­schen Pfund und 2 Prozent aus aus­tra­li­schen Dollar. Der euro­päi­sche Anteil beträgt die rest­li­chen 65 Prozent, die auf Euro deno­mi­niert sind.

Um diese Summe in Per­spek­tive zu bringen, belau­fen sich die welt­wei­ten Hilfs­pa­kete für die Ukraine in den ersten beiden Jahren des Krieges auf rund 380 Mrd. USD. Der ame­ri­ka­ni­sche Anteil beläuft sich auf etwa 110 Mrd. USD. Die Insti­tu­tio­nen der Euro­päi­schen Union haben rund 91 Mrd. USD an direk­ter Hilfe bereit­ge­stellt, wobei Deutsch­land mit rund 24 Mrd. USD der zweit­größte Ein­zel­ge­ber für die Ukraine ins­ge­samt ist.

Kurz gesagt, 300 Mil­li­ar­den Dollar an ein­ge­fro­re­nen rus­si­schen Ver­mö­gens­wer­ten haben ein erheb­li­ches Poten­zial, die Situa­tion der Ukraine zu ver­än­dern. Dies geschieht zu einer Zeit, in der die USA ihre Unter­stüt­zung für die Ukraine stark redu­zie­ren und Europa die Ver­ant­wor­tung über­las­sen, die Ukraine und sich selbst zu schützen.

Warum wurden diese Ver­mö­gens­werte nicht einfach beschlagnahmt?

Die poli­ti­schen und stra­te­gi­schen Argu­mente für die Beschlag­nah­mung des rus­si­schen Staats­ver­mö­gens liegen auf der Hand. Dies würde der Ukraine eine unschätz­bare Ret­tungs­leine ver­schaf­fen und die Wahr­schein­lich­keit eines Sieges erhöhen. Es würde die Ukraine auch vor Ent­schei­dun­gen der USA schüt­zen, die ihre Fähig­keit, sich gegen rus­si­sche Aggres­sio­nen zu ver­tei­di­gen, untergraben.

Vor allem aber würde damit eine neue stra­te­gi­sche Abschre­ckung geschaf­fen. Andere Länder, die ihre Nach­bar­län­der über­fal­len wollen, müssten damit rechnen, dass ihre Ver­mö­gens­werte beschlag­nahmt werden, wenn sie dies tun. Die auto­ri­tä­ren Staaten der Welt würden eine deut­li­che Bot­schaft erhal­ten: „Wenn du deinen Nach­barn angreifst, wirst du dafür bezah­len“. Wenn man Aggres­sio­nen ver­teu­ert, werden sie letzt­lich unwahrscheinlicher.

Die EU-Außen­be­auf­tragte Kaja Kallas, der est­ni­sche Außen­mi­nis­ter Margus Tsakha, der pol­ni­sche Pre­mier­mi­nis­ter Donald Tusk und andere der­zei­tige und ehe­ma­lige Amtsträger:innen haben öffent­lich ihre Unter­stüt­zung bekun­det. Frank­reich, Deutsch­land und andere Länder der Euro­zone, dar­un­ter Belgien, wo Euro­clear seinen Sitz hat, sind nach wie vor gegen die Beschlag­nah­mung des gesam­ten rus­si­schen Staats­ver­mö­gens in Höhe von 300 Mil­li­ar­den Dollar. Die Gründe für ihre Ableh­nung sind größ­ten­teils poli­ti­scher Natur, wobei sie sowohl recht­li­che als auch wirt­schaft­li­che Argu­mente anfüh­ren, um ihre Ableh­nung zu rechtfertigen.

Ist die Beschlag­nah­mung rus­si­scher Ver­mö­gens­werte legal?

Ja. Füh­rende inter­na­tio­nale Jurist:innen haben bestä­tigt, dass die Über­tra­gung rus­si­scher Ver­mö­gens­werte in einen Fonds für die Ukraine recht­mä­ßig wäre, unter anderem in einer von der EU in Auftrag gege­be­nen Studie von Pro­fes­so­rin Phil­ippa Webb und in einem Memo­ran­dum, das von 11 der welt­weit füh­ren­den inter­na­tio­na­len Juris­ten, dar­un­ter ein Mit­glied der UN-Völ­ker­rechts­kom­mis­sion, mit unter­zeich­net wurde.

Das Grund­prin­zip lautet, dass ein Land nur dann von der Nicht­ein­mi­schung in seine Eigen­tums­rechte pro­fi­tiert, wenn es sich an das Völ­ker­recht hält. Prak­tisch alle inter­na­tio­na­len Gremien erken­nen an, dass Russ­land mit seinem nicht pro­vo­zier­ten Angriffs­krieg gegen die Ukraine gegen einen Grund­pfei­ler des Völ­ker­rechts ver­sto­ßen hat. Ein aggres­si­ver und völ­ker­mor­den­der Wie­der­ho­lungs­tä­ter darf und sollte nicht die glei­chen Vor­teile der Nicht­ein­mi­schung genie­ßen wie andere Länder, die sich ans Völ­ker­recht­hal­ten. Es ist auch unstrit­tig, dass Russ­land nach inter­na­tio­na­lem Recht Repa­ra­tio­nen für die von ihm ver­ur­sach­ten Schäden schuldet.

Wenn das Fehl­ver­hal­ten eines Landes so unge­heu­er­lich ist, dass es gegen die grund­le­gen­den Normen des Völ­ker­rechts ver­stößt, wird davon aus­ge­gan­gen, dass es die gesamte Welt­ge­mein­schaft betrifft. Jedes Land hat nun das Recht, viel­leicht sogar die Pflicht, Gegen­maß­nah­men zu ergrei­fen, um das wider­spens­tige Land wieder in Ein­klang mit den inter­na­tio­na­len Normen zu bringen, gegen die es ver­stößt. Durch die Über­wei­sung von Ver­mö­gens­wer­ten an einen inter­na­tio­na­len Ent­schä­di­gungs­fonds würden die teil­neh­men­den Länder Russ­land dazu bringen, seiner Ver­pflich­tung zur Zahlung von Repa­ra­tio­nen an die Ukraine nachzukommen.

Was ist mit der sou­ve­rä­nen Immu­ni­tät Russ­lands, die angeb­lich das Ver­mö­gen des Landes schüt­zen soll? Bei der sou­ve­rä­nen Immu­ni­tät handelt es sich um ein Konzept, das die natio­na­len Gerichte eines Landes daran hindert, über die Regie­rungs­hand­lun­gen eines anderen Landes zu urtei­len oder über das Ver­mö­gen des anderen Landes zu ver­fü­gen. Ohne gericht­li­che Maß­nah­men kommt die staat­li­che Immu­ni­tät nicht zum Tragen. Die Gegen­maß­nah­men würden aus­schließ­lich von der Exe­ku­tive durch Gesetz­ge­bung oder in par­la­men­ta­ri­schen Sys­te­men durch Kabi­netts­be­schlüsse beschlos­sen und umge­setzt. Es handelt sich um staat­li­che Maß­nah­men, die nor­ma­ler­weise nicht als jus­ti­zia­bel ange­se­hen werden.

Trotz­dem haben einige Regie­run­gen, zum Bei­spiel die deut­sche, die Rechts­un­si­cher­heit ange­führt als Ent­schul­di­gung für ihre Untä­tig­keit. In Wirk­lich­keit würde eine solche Über­wei­sung nicht nur das Völ­ker­recht stärken, indem sie die Ver­pflich­tung Russ­lands zur Zahlung von Repa­ra­tio­nen durch­setzt, sondern auch die finan­zi­el­len Lasten des Wie­der­auf­baus der Ukraine erleichtern.

Was muss jetzt geschehen?

Der Bedarf an Ana­ly­sen ist weit­ge­hend gedeckt. Jede Behaup­tung, dass weitere Ant­wor­ten gesucht werden müssen, sollte als das gesehen werden, was sie ist: Hin­hal­ten und ein­fa­che poli­ti­sche Feig­heit. Europa muss zumin­dest ver­hin­dern, dass die Ver­mö­gens­werte „stan­dard­mä­ßig“ an Russ­land zurück­ge­ge­ben werden, falls die Poli­ti­ker keine Ent­schei­dung treffen. In der EU bedeu­tet dies, dass diese Länder handeln müssen, um ihre natio­na­len Sank­tio­nen gegen das über Euro­clear gehal­tene Bargeld des rus­si­schen Staates auf­recht­zu­er­hal­ten, unab­hän­gig von der EU-Sank­ti­ons­re­ge­lung, falls diese ausläuft.

Der beste Weg nach vorn besteht darin, drin­gend auf die Über­tra­gung rus­si­scher Staats­ver­mö­gen in einen Ent­schä­di­gungs­fonds für die Ukraine hin­zu­ar­bei­ten – der einzige sichere Weg, um sie gegen eine Rück­gabe an Russ­land abzu­si­chern. Auf diese Weise werden Repa­ra­ti­ons­zah­lun­gen an die Ukraine gewähr­leis­tet und ein Beitrag zu den Kosten des Wie­der­auf­baus geleis­tet, die andern­falls wahr­schein­lich von der EU getra­gen werden müssten. Es ist an der Zeit, poli­ti­sche Ent­schei­dun­gen zu treffen – bevor es zu spät ist.

Yuliya Ziskina ist Senior Legal Fellow bei Razom. Sie ist auf Finanz- und Völ­ker­recht spezialisiert

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