Gehen oder bleiben?
Warum junge Menschen aus der Ukraine auswandern wollen und was der Staat dagegen tun kann. Die demographischen Prognosen sind düster, aber es gibt auch Hoffnung.
Eine aktuelle Umfrage ergab, dass fast die Hälfte der ukrainischen Jugendlichen unter 29 Jahren ausreisen wollen. Nur 38 Prozent wollen das demnach nicht. Bereits vor zwei Jahren prognostizierte ein UN-Bericht für das Jahr 2050 für die Ukraine nur noch eine Bevölkerung von 30 bis 35 Millionen Menschen einschließlich der Krim.
Das Phänomen eines sogenannten „Brain-Drain“ ist in der modernen ukrainischen Geschichte nicht ganz neu. Einige grobe Schätzungen gehen von mindestens 8 Millionen Menschen aus, die während der Unabhängigkeit der Ukraine ausgereist und nie mehr zurückgekehrt sind. 1991 lebten in der Ukraine etwa 52 Millionen Menschen, nach neueren Berechnungen sollen es heute ohne die besetzten Gebiete nur noch 41.5 Millionen sein.
Die Arbeitsmigration ist nach der russischen Aggression in der heutigen Ukraine das zweitkritischste Ereignis, das im Staat auf der Tagesordnung steht. Jedoch haben sich nach der Maidan-Revolution im Jahre 2014 die wichtigsten Arbeitsziele verändert, da immer mehr Ukrainer nicht mehr in Russland arbeiten, sondern in der EU, hauptsächlich in Polen (46% aller Migranten).
In Russland, laut Eurostat, arbeiteten im 2017 Jahr noch 340.000 Ukrainer (im 2012 waren es 500.000). Italien und Tschechien sind weiterhin die dritt- und viertbeliebtesten Zielländer. Spanien, Portugal, Ungarn und Deutschland gehören auch zu den populären Arbeitsorten. In den vergangenen Jahren bildeten Ukrainer in der EU die größte Gruppe unter den ausländischen Arbeitskräften.
Die Konsequenzen für die Staatsentwicklung sind alarmierend, da diejenigen, die den Staat verlassen, in der Regel zu den gebildeten und gut qualifizierten Menschen gehören. Das Land für immer zu verlassen, ist wahrscheinlich die schlechteste Antwort, die ein Volk dem Staat geben kann.
Der 26-jährige Ingenieur Vladyslaw, der im Jahr 2019 aus der Ukraine nach Deutschland ausgewanderte, argumentiert:
Ich habe in der Ukraine zwei Mal mehr gearbeitet und vier Mal weniger Geld erhalten. Die Preise steigen, aber nicht die Gehälter.
Vladyslaw, 25 Jahre alt
Niedrige Gehälter sind nicht der einzige Grund für die Abreise. Der junge Ingenieur verweist auch auf andere wichtige Faktoren wie angemessene öffentliche Dienstleistungen, die in der Ukraine möglicherweise fehlen:
Ich halte im Ausland absolut alles für besser, die Lebensbedingungen im weitesten Sinne: Straßen, Medizin, Einstellung zu Menschen, Versicherung für absolut alles, Einstellung zur Müllentsorgung, Produktqualität, erschwingliche Hypotheken für junge Menschen, erschwingliche Preise für Neuwagen, vernünftige Arbeitszeit und Entlohnung und viele andere Dinge.
Olexandr, 38 Jahre alt, Schweißer in Polen, erzählt, dass er dazu gezwungen wurde, dass Land zu verlassen, um seinem Kind ein gutes Studium in der Ukraine zu ermöglichen:
Es ist sehr schwierig, 25.000 Griwna für die jährliche Ausbildung eines Kindes in der Ukraine mit einem Monatsgehalt von 5.000 Griwna zu bezahlen. Dies ist nur eine hoffnungslose Situation, in der Sie sich entweder entscheiden müssen, ob Sie ins Ausland gehen und dort arbeiten oder ob Ihr Kind ohne Ausbildung bleibt.
Die 25-jährige Ilona erzählt, dass sie im Krankenhaus als Krankenschwester arbeitete, ein Job, den sie wirklich mag. Aber angesichts des niedrigen Gehalts sah sie sich gezwungen, das Land zu verlassen:
Ich mag meinen Beruf sehr, aber in der Ukraine ist er leider sehr unterbewertet. Früher habe ich in der Ukraine 100 Euro pro Monat erhalten, während die Kassiererin im Supermarkt zwei Mal mehr erhielt, und das hat mich immer beleidigt!
Darüber hinaus verlassen Ukrainer den Staat, weil er ihnen als chaotisch und unorganisiert erscheint. Sie finden es schwierig, die Zukunft vorherzusagen. Andrij, der sich für einen Umzug nach Estland entschieden hat, motiviert seine Entscheidung, die Ukraine zu verlassen, aus dem Wunsch heraus, in einem Land zu leben, in dem er sich gesetzlich geschützt fühlen kann und in der Lage ist, ein stabiles Leben zu führen und gleichzeitig eine qualitativ hochwertige Ausbildung zu erhalten.
Ich lebe in Estland, wo nach dem Gesetz alle gleich sind. Es gibt kein Gefühl von Chaos, und man fühlt sich als Teil eines effizienten und gerechten Systems. Dies ist die Quelle aller Verbesserungen, die die ukrainische Regierung seit langem nicht erreichen kann.
Die Covid-19-Pandemie hat den Migrationstrend etwas gebremst. Vorher wurde geschätzt, dass jeden Monat rund 100 000 Ukrainer das Land verlassen. Der damalige Sekretär des Nationalen Sicherheitsrates Alexander Turtschinow sprach 2019 auf dem Allukrainischen Familienforum in Kiew sogar von einem „Migrations-Tsunamis, die aus der Ukraine riesige intellektuelle und personelle Arbeitskräfte auswaschen. Bis zu 9 Millionen Ukrainer gehen jährlich ins Ausland”.
Viele junge Menschen haben es schwer, ihr Potenzial zu nutzen: „Es gibt im Ausland mehr Möglichkeiten voranzukommen und wenige Hindernisse, die dir im Weg stehen. In der Ukraine hingegen wird man oft mit Korruption und Ungerechtigkeit konfrontiert, was sehr frustrierend sein kann“, argumentiert die 26-jährige Sprachwissenschaftlerin Olena, die im 2017 aus der Ukraine nach Deutschland ausgewandert ist.
Olena, 26 Jahre alt
Überraschenderweise kann man der Arbeitsmigration auch positive Seiten abgewinnen. So sind diejenigen, die im Ausland arbeiten, zu den Hauptinvestoren in der ukrainischen Wirtschaft geworden und haben im 2019 über 16 Milliarden Euro aus dem Ausland transferiert, wobei 2020 aufgrund von Covid ein leichter Rückgang zu verzeichnen war. Nach einigen Berechnungen machen die Überweisungen aus dem Ausland 8% des BIP des Landes aus und helfen den ukrainischen Familien, ein besseres Leben zu führen, indem sie gleichzeitig die Kaufkraft der Menschen anregen und letztendlich die Stabilisierung der staatlichen Wirtschaft verbessern. Darüber hinaus wurde die Arbeitsmigration von den lokalen Arbeitgebern als Anreiz für die Erhöhung der Gehälter anerkannt. Vor diesem Hintergrund waren die Arbeitgeber gezwungen, die Gehälter für die lokalen Arbeitnehmer zu erhöhen.
„Ich sehe Chancen, wo andere Menschen nur Herausforderungen und Probleme sehen“
Auf der anderen Seite eröffnete die Entwicklung nach der Maidan-Revolution auch interessante Möglichkeiten für Menschen, die beschlossen, in der Ukraine zu bleiben. Vjastcheslaw, 25 Jahre alt, ist nach seinem Studium in England in die Ukraine zurückgekehrt, um an einem Projekt zum Aufbau der Demokratie zu arbeiten:
Trotz aller Skepsis und aller Enttäuschungen habe ich ein starkes Vertrauen in die Ukrainer. Ich habe nicht die Illusion, dass das Leben in der Ukraine einfach sein wird, aber ich bin bereit, hart zu arbeiten, weil ich sehe, dass andere Menschen ihre Zeit, ihre Anstrengungen und ihr Leben opfern, um eine bessere Zukunft für dieses Land aufzubauen.
Viacheslaw, 25 Jahre
Darüber hinaus verfügen diejenigen, die aus dem Ausland zurückkehren, sehr oft über eine breite Erfahrung, Fachkenntnisse und Fähigkeiten, die man vor Ort nutzen kann. So war der Post-Maidan-Trend auch eine Erfolgsgeschichte in den Augen vieler talentierter Ukrainer, die beschlossen, in die Ukraine zurückzukehren und ihr Leben hier zu organisieren. Der 30-jährige Stanislaw beispielsweise lebte früher in Deutschland, entschloss sich jedoch, in seine Heimatstadt Tschernihiw zurückzukehren, wo er ein Restaurierungsprojekt für alte authentische Holzhäuser in der Stadt startete.
Stanislav argumentiert:
Ich bin Ukrainer, so einfach es auch klingen mag, es ist mein Zuhause und ich möchte hier leben. Wenn alle Menschen daran denken würden, das Land zu verlassen, wird es niemals zu einer erfolgreichen Geschichte, da es keine Menschen geben wird, die es bauen könnten. Es ist langweilig, im Westen zu leben, da das Leben dort für die Menschen bereits sehr gut ist und man es einfach genießt, während es in der Ukraine so viele tief verwurzelte Probleme gibt, dass jeder Mensch dazu beitragen kann, etwas Neues zu schaffen. Das bedeutet, dass man in der Ukraine ein viel interessanteres und aufregenderes Leben führen kann als anderswo.
Mark, 25 Jahre alt, Assistent in der internationalen Organisation, erklärt seine Rückkehr aus Estland, wo er Politikwissenschaft studierte, mit seinem Wunsch, sich für die Zukunft der Ukraine verantwortlich zu fühlen:
Ich verstehe, dass es meine persönliche Entscheidung war, hierher zurückzukehren. Ich glaube, dass eine erfolgreiche Person überall erfolgreich sein kann und es nicht von dem Ort abhängt, an dem man lebt.
Obwohl Mark die Chance hat, entweder in Großbritannien oder in Estland zu bleiben, nachdem er in beiden Staaten studierte, arbeitet er in einer Organisation, die zur Verstärkung der Zivilgesellschaft im Land beiträgt:
Ich fühle mich als Subjekt und Akteur positiver Veränderungen in meinem Land. Ich genieße die Tatsache, dass ich mit meinen täglichen Aktionen mein Land zu einem besseren Ort mache. Es ist mein Land, und ich möchte, dass meine zukünftigen Kinder Ukrainer sind. Ich möchte die Ukraine nicht gegen eine bessere Lebensqualität in einem anderen Land eintauschen. Diese Situation in unserem Land erinnert mich an Israel, wie es am Anfang war. Die Menschen, die ins Land kamen, waren bereit, die Schwierigkeiten zu teilen. Sie waren bereit, in der Armee zu dienen und unter Konfliktbedingungen zu leben. Offensichtlich gab es auch andere Möglichkeiten für jüdische Menschen, viele von ihnen konnten in die USA oder nach Deutschland oder in andere Länder auswandern und ein normales, wohlhabendes Leben führen.
Illusionen macht er sich aber nicht.
Ich verstehe voll und ganz, dass die Änderungen nicht in naher Zukunft eintreten werden und es Jahre dauern wird, bis sich die Situation verbessert, das müssen wir akzeptieren. Ich verstehe auch, dass ich in einem Land mit einem anhaltenden militärischen Konflikt lebe und es immer die Möglichkeit einer Eskalation und einer vollständigen Invasion gibt. Ich sehe auch kein Problem in dieser Tatsache, es ist einfach so wie es ist, und ich persönlich bin mit einer solchen Situation einverstanden. Wir müssen es akzeptieren.
Was erzählen uns diese Geschichten?
Wie aus den Beispielen hervorgeht, eröffneten die Ereignisse nach 2014 ein Fenster mit Möglichkeiten für Menschen, die beschlossen, zurückzukehren oder im Land zu bleiben. „Letztendlich ist die Ukraine ein interessantes Land voller nicht realisierter Potenziale“, argumentierten einige der zurückgekehrten Ukrainer.
Auf der anderen Seite muss der Staat die Abreise vieler Ukrainer als ernstes Problem anerkennen und anfangen, in Humankapital zu investieren und ein günstiges Umfeld für die eigene Bevölkerung zu schaffen.
In der Regierung wird bereits über die Vergabe von Nullprozentkrediten diskutiert – in Höhe von rund 150 000 UAH (29.000 Euro) für Ukrainer, die sich dafür entscheiden, aus dem Ausland zurückzukehren, um vor Ort Geschäfte zu machen. Obwohl diese Initiative gut ist, reicht sie nicht aus und sollte durch ein starkes Engagement für nachhaltige politische, wirtschaftliche und soziale Transformationen unterstützt werden. Die Justizreform, die Bildungsreform, die Strafverfolgung und die Steuerreform sollten Priorität haben. Alle vier Zweige sind in der Ukraine funktionsgestört und entsprechen nicht den aktuellen Trends und Bedürfnissen der Gesellschaft. In der Ukraine fehlt eine erstklassige Infrastruktur, und Investitionen in moderne Autobahnen, Flughäfen, Seehäfen und Krankenhäuser würden das BIP des Staates steigern und Tausende von Arbeitsplätzen schaffen.
Darüber hinaus sollte die Zusammenarbeit mit lokalen Banken darauf abzielen, den Zinssatz zu senken und allen Menschen günstige Kredite und Hypotheken zur Verfügung zu stellen. Parallel dazu sollte sich der Staat nachdrücklich für die Umsetzung der Assoziationsabkommen mit der EU einsetzen, die Mitgliedschaft in der NATO anstreben und Wirtschaft und Gesellschaft vor dem Einfluss der Oligarchen schützen. Obwohl sich das Land insgesamt gesehen in die richtige Richtung bewegt, könnte das Reformtempo beschleunigt werden, da die osteuropäischen Nachbarn nicht schlafen, sondern sich schnell entwickeln und für Ukrainer als Lebens- und Arbeitsorte immer attraktiver werden.
Gefördert durch:
Verwandte Themen
Newsletter bestellen
Tragen Sie sich in unseren Newsletter ein und bleiben Sie auf dem Laufenden.