Zwischen rechter Aggression und politischer Untätigkeit: Die Lage der LSBTI-Community in der Ukraine
Die LSBTI-Community in der Ukraine ist sichtbarer denn je. Gleichzeitig verharrt die politische Klasse in Untätigkeit und Rechtsradikale mobilisieren immer häufiger gegen sexuelle Minderheiten.
Exakt 56 Seiten umfasst der Bericht, den die Kiewer Menschenrechtsorganisation Nash Mir im Februar dieses Jahres veröffentlicht hat. In allen Details führt er auf, wie es um die Situation von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Transgendern und Intersexuellen in der Ukraine steht: Wie sich Justiz, Politik, Medien, Kirchen und Gesellschaft dazu positionieren, wo es zu Diskriminierung und Gewalt gekommen ist, und natürlich spielt auch das Leben der sexuellen Minderheiten in den besetzten Gebieten eine Rolle. Das Ergebnis ist schnell zusammengefasst: Der Reformkurs der Ukraine ist in diesem Bereich ins Stocken geraten und gewaltbereite ultrarechte Splittergruppen bestimmen die Agenda.
Angriffe von der Straße
Tatsächlich attackieren Organisationen wie Nationaler Korpus, Rechter Sektor, Tradition und Ordnung, Trysub (Dreizack), Karpatska Sitsch, Sokil (Falke) oder Bratstwo (Bruderschaft) immer häufiger öffentliche Veranstaltungen und Einrichtungen der LSBTI-Community. Die Präsenz lokaler und nationaler Medien macht solche Aktionen für die Angreifer*innen attraktiv, lassen sich die eigenen Botschaften vom gesunden Volk, der traditionellen ukrainischen Familie und dem Schutz vor westlicher Dekadenz doch so noch besser unters Volk bringen. Rechte Parteien mögen im Parlament keine Rolle spielen und sie haben auch keinen großen Einfluss auf Politik und Gesellschaft. Auf der Straße aber sind sie sehr präsent und haben neuerdings Homo- und Transphobie zu ihrem Lieblingsthema erkoren.
„Sieg Heil haben sie geschrien und Tod den Päderasten“
Um den 17. Mai herum hat es gerade erst einige Vorfälle gegeben, die sich gegen Veranstaltungen zum Internationalen Tag gegen Homo‑, Bi‑, Trans- und Interphobie (IDAHoBIT) richteten. In der ganzen Ukraine finden dazu seit Jahren traditionell kleinere Events wie Flashmobs, Demonstrationen, Kundgebungen und Diskussionen statt. In Saporischschja wurde bei einer Zusammenkunft der örtlichen LSBTI-Organisation „Gender Z“ ein Feuerwerkskörper in die Menge der Protestierenden geschleudert; verletzt wurde ein Polizist. Die Behörden ermitteln. In Tscherniwzi haben Rechtsradikale und Gläubige das Equality-Festival blockiert, zu dem die LSBTI-Organisation „Insight“ aus Kiew regelmäßig an einen anderen Ort der Ukraine lädt. Aus Sicherheitsgründen wurde das Festival abgesagt, die Polizei evakuierte die Teilnehmerinnen und Teilnehmer.
Anfang des Jahres schon hat in Krywyj Rih eine Gruppe von Rechten das Queer Home überfallen, eines von mehreren Kommunikations- und Kulturzentren für die Community. Der Leiter der Organisation wurde schwer verprügelt. Seinen Namen will er lieber nicht öffentlich genannt wissen. „Sieg Heil haben sie geschrien und Tod den Päderasten“, erzählt er. Die Polizei hat die Täter nicht gefasst.
Beten für die gottgewollte Ordnung
Unterstützung erfahren die Rechten oft von ultrareligiösen Gruppen wie etwa von der Organisation „Liebe gegen Homosexualismus“. Inhaltlich dürften sie auf einer Linie mit den Kirchen des Landes liegen, die aber – mit Ausnahme der ukrainisch-orthodoxen Kirche des Moskauer Patriarchats – inzwischen lieber schweigen, wenn es um LSBTI-Themen geht. Ihre Petitionen richten sich gegen die Förderung „nichttraditioneller Familien“, also gegen so genannte Gay-Propaganda, vermeintlich um Minderjährige zu schützen. Das erinnert an die Gesetzeslage in Russland, wo es seit 2013 ein Gesetz gibt, das die „Propaganda von nichttraditionellen sexuellen Beziehungen“ verbietet. Das hat zu einer Hatz gegen Homosexuelle geführt, die bis heute zahlreiche Menschenrechtsverletzungen nach sich zieht.
Aktivisten wie Ruslan Kuchartschuk, der mit seiner Kampagne „Vsi rasom!“ („Alle zusammen!“) seit einiger Zeit in Stadträten kleiner Gemeinden Stimmung gegen LSBTI macht, befördern homophobes Denken. Und Städte wie Poltawa, Ternopil und Iwano-Frankiwsk senden dann Beschwerden an die politische Führung in der Hauptstadt, mit der Aufforderung, „Gay-Propaganda“ zu unterbinden und die Diskriminierung sexueller Minderheiten im Gesetz festzuschreiben.
Gewalt gegen Minderheiten
Die derart geschürte Homo- und Transphobie führt immer wieder zu Diskriminierungen und Gewalt. Nash Mir dokumentiert in ihrem jüngsten Bericht für das Jahr 2017 exakt 206 Fälle. Verbale und körperliche Übergriffe erleben Lesben, Schwule, Bisexuelle, Transgender und Intersexuelle vermutlich fast täglich, wenn man davon ausgeht, dass nicht alle das Erlebte auch tatsächlich melden. Dabei spielen die Angst, sich vor der Polizei zu outen, und die Scham, Opfer zu sein, eine große Rolle. Lesben, Schwule, Bisexuelle, Transgender und Intersexuelle werden, so der Bericht von Nash Mir, verhöhnt und öffentlich diskreditiert – in der Schule, am Arbeitsplatz, beim Einkaufen. Besonders perfide gehen dabei Gruppen wie „Modnyi Prygowor“ vor, die schwule Männer über Datingportale gezielt zu einem ihrer Mitglieder nach Hause locken, sie dort dann zum Outing zwingen, manchmal schlagen und vergewaltigen, das Ganze filmen und ins Netz stellen.
In den Augen der ukrainischen Zivilgesellschaft stellt sich die Politik nicht entschieden genug gegen die Umtriebe der Rechten im Land.
Die Polizei in der Ukraine erfasst zwar offiziell Hasskriminalität aufgrund von Homo- und Transphobie, aber nur selten und meist widerwillig, sodass die Verfolgung solcher Taten schwierig ist. Vor dem Gesetz gelten so genannte hate crimes weiterhin nicht als „besonders schwerwiegend“, was bei einer Verurteilung zu härteren Strafen führen könnte. In vielen Fällen diskriminiert die Polizei die Opfer selbst oder lässt kein großes Interesse an Fahndungserfolgen erkennen – auch wenn sich die Situation durch die staatlich verordnete Schulung vieler Polizeikräfte in Menschenrechtsfragen in diesem Bereich schon in Teilen verbessert hat. In den vergangenen Jahren haben immer wieder Runde Tische stattgefunden, an denen neben Menschenrechtler*innen und LSBTI-Organisationen Mitarbeitende des Innenministeriums und der Polizei teilgenommen haben. Das Ziel: Bekämpfung von Hasskriminalität, Sicherheit bei öffentlichen LSBTI-Veranstaltungen und ein respektvoller Umgang mit sexuellen Minderheiten.
In den Augen der ukrainischen Zivilgesellschaft stellt sich die Politik – von Ausnahmen vor allem auf lokaler Ebene abgesehen – nicht entschieden genug gegen die Umtriebe der Rechten im Land.
Sanfte Öffnung
Die Lage ist für Lesben, Schwule, Bisexuelle, Transgender und Intersexuelle in der Ukraine umso unbefriedigender, als sich die Situation auf rechtlicher Ebene in den vergangenen Jahren eigentlich verbessert hat. Auch die Akzeptanz in Teilen der Bevölkerung hat zugenommen und nähert sich dem Niveau der EU-Länder an. Die Kluft zu anderen postsowjetischen Ländern wie Russland und Aserbaidschan dagegen wächst. Die zunehmende Sichtbarkeit der Community in der Öffentlichkeit hat geholfen, Vorurteile abzubauen. „Tatsächlich erregen LSBTI-Themen keine besonders starken Gefühle mehr in der breiten ukrainischen Bevölkerung“, sagt Andrij Krawtschuk von Nash Mir. Die Menschen ließen durchaus mit sich reden, wenn es um sexuelle Minderheiten gehe. Das Land öffne sich.
Erfolgreiche Pride-Bewegung
Dafür dürfte – neben den Aufklärungskampagnen jüngerer Zeit – insbesondere die Pride-Bewegung verantwortlich sein. Seit 2012 haben einzelne Aktivist*innen aus Kiew, dann die Gay Alliance Ukraine und schließlich die Organisation KyivPride gemeinsam mit Amnesty International jedes Jahr versucht, einen Gay-Pride durchzuführen, in Deutschland bekannt als Christopher Street Day (CSD). Auf dem CSD demonstrieren Lesben, Schwule, Bisexuelle, Transgender und Intersexuelle – in Erinnerung an den Stonewall-Aufstand 1969 in New York – jedes Jahr für gleiche Rechte. Es handelt sich um eine Mischung aus Party und Politik. In der Ukraine freilich stehen politische Motive im Vordergrund.
2013 konnte noch unter Präsident Wiktor Janukowytsch zum ersten Mal ein Gay-Pride in Kiew stattfinden. 150 Leute demonstrierten außerhalb der Stadt, geschützt von der Polizei auch dank starker Beteiligung ausländischer Politiker*innen. 2017 waren es schon 3.500 Menschen, die mitten im Zentrum (!) vor der Taras-Schewtschenko-Universität für Menschenrechte marschierten, und beileibe nicht nur Vertreter*innen der LSBTI-Community. Die Gäste aus dem Ausland machten nur noch einen Bruchteil der Teilnehmer*innen aus. Dieses Jahr waren laut den Veranstaltenden rund 5.000 Menschen auf dem KyivPride am 17. Juni 2018. Jedes Mal schützen Tausende Beamt*innen das Großereignis. Die Kiewer Polizei und die Stadtverwaltung haben ihre Unterstützung bereits zugesagt, denn selbstverständlich haben radikale Gruppen ihr Kommen angekündigt: Sie protestieren, drohen mit Blockaden und Gewalt. Jedes Jahr gibt es nach dem Pride Verletzte, wenn die Rechten durch die Stadt ziehen.
Der KyivPride ist durchaus umstritten: Eine Mehrheit der Kiewer (57 Prozent) lehnt ihn laut einer Befragung des Marktforschungsinstituts Active Group vom April 2017 ab; 38 Prozent der Kiewer sind dafür. Vor ein paar Jahren allerdings wäre die Zahl der Befürworter*innen aber sicher noch deutlich niedriger ausgefallen.
Auch in anderen Städten wie Mykolajiw, Odessa, Cherson und Krywyj Rih finden kleinere Events statt. Viele Menschen unterstützen die Öffnung ihres Landes gegenüber sexuellen Minderheiten, darunter einflussreiche Musiker*innen wie Iryna Bilyk und Jamala (Gewinnerin des Eurovision Song Contest 2016), Kunstschaffende, Blogger*innen und Abgeordnete. Auch Unternehmen wie das Frauenmodelabel „Who is it?“ unterstützen die Community. Generell wirkt die LSBTI-Community der Ukraine inzwischen gut vernetzt in vielen Bereichen der Politik, Gesellschaft und Wirtschaft.
Menschenrechtspolitik: außen hui, innen pfui
Die Politik hat ein Interesse daran, diese Großveranstaltungen zu schützen, weil das Ausland zuschaut. Die Ukraine kann es sich nicht leisten, die EU als Partnerin zu verprellen, zu viel hängt wirtschaftlich und politisch davon ab. Und letztlich ist der offiziell LSBTI-freundliche Kurs der Regierung auch eine Möglichkeit, sich von Russland abzugrenzen. Dennoch sind Regierung und Parlament wenig motiviert, ihren eigenen Aktionsplan für Menschenrechte umzusetzen, den sie am 23. November 2015 auf den Weg gebracht haben. Er sah bis 2020 umfassende Gesetzesvorhaben vor, und zwar unter anderem den Schutz vor Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung / Gender-Identität und eingetragene Partnerschaften für gleichgeschlechtliche Paare.
Mit Minderheitenpolitik lassen sich keine Wahlen gewinnen
Die Deadlines für die Gesetzesvorhaben sind inzwischen verstrichen. Einen Grund für die Passivität, ja für die Behinderung des Aktionsplans, sehen ausländische Diplomat*innen und LSBTI-Aktivist*innen in den anstehenden Präsidentschafts- und Parlamentswahlen im Jahr 2019. Es heiße abwarten und die Wähler nicht verschrecken. Mit Minderheitenpolitik ließen sich keine Wahlen gewinnen. Ob eine neue Regierung die Themen anpackt, ist angesichts des wachsenden Populismus fraglich.
Die Rechten rotten sich zusammen
Die große Politik wartet also ab, während rechte und religiöse Gruppen aktiv werden; für sexuelle Minderheiten stellen sie eine reale Gefahr dar. Die Rechten sind deutlich besser organisiert als früher, schaffen es, ihre – meist jungen – Anhänger*innen schnell zu mobilisieren und greifen an, wenn es geht. Kein öffentliches LSBTI-Event ist vor ihnen sicher, wenn sie davon erfahren. Wenig überraschend, dass die Rechten auch keine Fans feministischer Veranstaltungen und generell von Veranstaltungen zu Themen wie Gendergerechtigkeit und Gleichberechtigung sind. Die Überfälle haben in erschreckendem Maße zugenommen. Sie betreffen selbst Veranstaltungen, an denen die Polizei beteiligt ist. Im Januar 2018 haben Rechte in Uschhorod und Winnyzja zwei Runde Tische zwischen der Polizei und örtlichen LSBTI-Gruppen gestört. Immerhin: Sechs weitere Runde Tische im Rest des Landes verliefen erfolgreich.
Langfristig werde sich die Situation der LSBTI-Community zum Positiven verändern – Neonazis hin oder her
Wirklich ernst nehmen Öffentlichkeit und Politik das Thema nicht, besonders letztere scheint darin kein großes Problem zu erkennen. Menschenrechtsaktivist*innen jedenfalls wünschen sich eine deutlichere Distanzierung der ukrainischen Politiker*innen von den rechten Umtrieben. Innenminister Arsen Awakow immerhin hat in der Vergangenheit vereinzelt Aktionen rechter Gruppen verurteilt.
Ausblick
Langfristig, so glauben die meisten LSBTI-Aktivist*innen, werde die Öffnung der Ukraine nach Westen die Situation der LSBTI-Community und die Gesellschaft insgesamt zum Positiven verändern – Neonazis hin oder her. Die russische Regierung stehe mit ihrer homophoben Agenda für ein überkommenes Modell, dem die Ukraine nicht nacheifern könne, selbst wenn sich der Westen und Russland wieder annähern würden. Die LSBTI-Community hat mit ihrem Kampf für Menschenrechte einen entscheidenden Beitrag zur positiven Veränderung der ukrainischen Gesellschaft geleistet.
Dieser Artikel erschien in einer längeren Fassung in den Ukraine-Analysen 203. Wir danken dem Autor und den Ukraine-Analysen für die Erlaubnis zum Nachdruck.
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