Auf der Suche nach Glück in der Ukraine
Unsere Autorin Oleksandra Bienert fragt sich, ob die Ukrainer glücklich sind. Dafür schaute sie sich Umfragen an, verglich die Zahlen des „World Happiness Report“ und sprach darüber mit den Menschen in ihrer Heimat.
Mein letzter Besuch in der Ukraine im August 2021 hat mich positiv überrascht. Vielleicht lag es daran, dass ich wegen Corona fast zwei Jahre nicht da war. Vermutlich aber viel mehr daran, dass die Ukraine sich seit Jahren rasant verändert. Zum Besseren. Ich habe unzählige neue Cafés und Bars gesehen. Auch neue Buchläden und Kinos. In Riwne – neue zivilgesellschaftliche Initiativen. In Odesa – einen Strand entdeckt, wo es für Menschen mit Behinderung Möglichkeiten gab einen Strandurlaub zu machen, und in Kyjiw – eine Ausstellung in der U‑Bahn über Menschen mit Autismus. Bunter und diverser als früher sah die Ukraine für mich in diesem Jahr aus. Es bewegt sich etwas positives überall. Man kann es nicht übersehen.
Als ich durch die Straßen von Kyjiw, Odesa und Riwne lief, aber auch in ein paar kleinen Dörfern, habe ich versucht über dieses Gefühl der Verbesserung hinaus zu verstehen, ob Menschen in der Ukraine sich glücklich fühlen. Mich interessierte es, wenigstens als Annäherung, wie man eigenes Wohlbefinden im achten Kriegsjahr und im 30. Jahr der Unabhängigkeit wahrnimmt. Mich interessierte weniger euphorisches Glück, das man jeden Tag spontan fühlen kann und was Wissenschaftler eine affektive Dimension von Glück nennen. Viel mehr fragte ich mich über die kognitive Dimension von Glück, d.h. wie fühlen sich Leute tatsächlich langfristig? Was denkt man über eigenes Leben, im Großen und Ganzen?
Zahlen und weltweiter Vergleich
Das dänische „Happiness Research Institute“ nennt Geld, Gemeinschaft, Freiheit, Vertrauen, Großzügigkeit und Gesundheit als unabdingbare Bestandteile eines glücklichen Lebens. Es existiert darüber hinaus ein weltweiter „Index des glücklichen Lebens“, der vom Institut „Gallup International“ seit 1977 erfasst wird. Viele Fragen sind hier ähnlich wie bei dem dänischen Institut. Diese Umfrage erfasst Einkommensniveau, Lebenserwartung, soziale Unterstützung, persönliche Freiheit, Verhältnis zu Korruption und Großzügigkeit.
Die Zahlen werden immer am Jahresende erhoben. 2020 wurde sie in der Ukraine vom „Kyiwer Internationalen Institut für Soziologie“ (KMIS) und der Stiftung „Demokratische Initiativen“ durchgeführt. Der Umfrage zufolge liegen Ukrainerinnen und Ukrainer irgendwo hinten in der Glückstabelle. Immer noch waren 2020 mehr Menschen in der Ukraine der Umfrage zufolge glücklich (49%) als unglücklich (35%).¹ In dem auf der Umfrage basierenden im März 2021 veröffentlichten „World Happiness Report“ liegt die Ukraine auf Platz 110 von 149.
Mich interessierte aber nicht der Index, also nicht der Vergleich mit den anderen. Mich interessierte die Frage, was Menschen fühlen – wo Glück doch so ein subjektives Gefühl ist. Kann man tatsächlich Glück vergleichen bzw. gibt es etwas, das für die Menschen in der Ukraine besonders wichtig ist? Ich frage meine Umgebung, Menschen, die ich in der Ukraine sehe – sind sie glücklich? „Glück – ist Arbeit“, antwortet einer. Und der andere: „Ich bin glücklich, weil Glück – in einfachen Dingen des Lebens ist. Ein schönes Wetter, ein Eis, ein Treffen mit meiner Freundin.“ Eine weitere Freundin sagt auf meine Frage, ob man im Land, wo Krieg herrscht glücklich sein kann: „Ja, der Krieg geht weiter, aber wir haben uns daran gewöhnt den Krieg als einen Teil von uns zu haben. Wichtig ist, dass die Basisbedürfnisse „geschlossen“ sind. Eine schöne Familie, nicht nachdenken zu müssen, ob das Budget bis zum Ende des Monats reicht. Das habe ich alles.“
Einen entscheidenden Hinweis gibt mir eine Englischlehrerin, die ich zufällig im Zug Riwne-Odesa treffe. Als ich sie frage, ob Ukrainer ihrer Meinung nach glücklich sind, sagt sie – „Ja. Wir leben in einem freien Land. Eine lange Zeit hatten wir einen totalitären Staat, aber nun können Menschen frei reden. Sogar gegen den Präsidenten, wenn sie es wollen. Also sogar, wenn sie arm sind – nicht kreuzarm, aber arm – sind sie nicht unglücklich.“ Und sie fügt noch etwas wichtiges hinzu: „Menschen unterstützen einander und das gibt ihnen ebenfalls ein Gefühl glücklich zu sein.“
Beim Glück geht es um Werte. Und um die Geschichte
Ich denke, die Frau hat Recht. Wie passt diese Einschätzung zum globalen Glücksindex und unserem 110. Platz? Der Politikwissenschaftler Yevhen Hlibovytsky liefert in seinem Vortrag „Aufgeschobene Unabhängigkeit“² eine wichtige Aufschlüsselung. Hlibovytsky spricht von zwei Haupttraumas, die die ganze ukrainische Gesellschaft hat – der „totalitären“ und der „kolonialen“. Für unsere Betrachtung hier ist relevant, was er über das totalitäre Trauma sagt. Hlibovytsky zufolge hat das totalitäre Trauma unter anderem damit zu tun, dass Struktur und Handeln gegenüber konkreten Menschen von Seiten des totalitären Sowjetstaates so mächtig war, dass die Menschen bis heute Angst vor „starken Regeln“ haben. Dies führt unter anderem dazu, dass Korruption normal ist. Man „erkauft“ sich quasi das gute Verhältnis zu Staat und Verwaltung – als Absicherung dagegen, dass einen der Staat als Opfer „auswählt“. Das ist keine Rechtfertigung von Korruption. Aber es erlaubt uns zu verstehen, warum die Korruptionsbekämpfung so langsam ist.
Als meine Reise in der Ukraine zu Ende ging und ich im Nachtzug Odesa-Kyiw saß und Tee bei der Schaffnerin bestellte, habe ich mit einem Rentenpaar gesprochen. Sie fuhren aus dem Urlaub zurück und erzählten, dass sie gemeinsam 4.000 Hrywna (umgerechnet 133 Euro) als ihr „Familienbudget“ pro Monat haben. Und sie erzählten mir auch mit strahlenden Augen, dass sie zum ersten Mal am Meer waren. Unser Zug raste an Feldern vorbei und sie schienen sehr glücklich zu sein.
Wir können „Glücksindexe“ aufstellen, aber wir können tatsächlich schlecht darin alle Länder mit ihrer unterschiedlichen Geschichte und Prägung vergleichen. Es gibt wichtige Dinge für Ukrainerinnen und Ukrainer, die andere überragen. Ja, es gibt Korruption im Land, aber das Verhältnis dazu ist offenbar sehr von unserer Vergangenheit geprägt. Wir haben zudem nicht so viel Geld, aber dafür haben wir Freiheit. Sie ist wichtig. Auch soziale Unterstützung ist mit neuen und alten zivilgesellschaftlichen Initiativen, in Familienbeziehungen und Freundschaften präsent und ebenfalls von großer Bedeutung. In vergleichenden „Glücksindexen“ mit anderen Ländern lässt sich die Einzigartigkeit jedes Weges eben schwer abbilden.
¹ „Der Index des Glücks in der Ukraine und in der Welt“ , Ergebnisse der Umfrage: https://dif.org.ua/en/article/indeks-shchastya-v-sviti-ta-ukraini_2021
² https://zbruc.eu/node/107859
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