Anton Drobowytsch: „Geschichtsminister“ und Kriegsveteran
Als Leiter des Ukrainischen Instituts für Nationale Erinnerung ist der 38-jährige Anton Drobowytsch eine Art ukrainischer „Geschichtsminister“. „Erinnerungspolitik ist genauso wichtig wie Sicherheit“, sagt der Philosoph, der sich nach der umfassenden Invasion freiwillig zum Militärdienst meldete, obwohl er dazu als Behördenchef nicht verpflichtet gewesen wäre.
Eigentlich hätte Anton Drobowytsch, der aus Kyjiw stammende Leiter des Ukrainischen Instituts für Nationale Erinnerung, nicht zwingend an die Front gemusst. Als Chef einer staatlichen Behörde hätte er sich von der nach dem russischen Großangriff am 24. Februar 2022 verkündeten Mobilmachung freistellen lassen können. „Aber von welcher Freistellung [kann die Rede sein], wenn russische Panzer vor Kyjiw stehen“, fragte der 38-Jährige in einem Interview, als er sich Ende 2023 wegen einer Handverletzung in der Hauptstadt aufhielt. Nicht nur wegen seines Staatsamtes weiß Drobowytsch ganz genau: Der Krieg Russlands gegen die Ukraine begann nicht im Februar 2022, sondern bereits im März 2014 mit der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim.
„Als die Russen auf der Krim einmarschierten, habe ich sofort verstanden, dass uns ein großer Krieg bevorsteht“, sagt Dobrowytsch. Er erinnert sich, wie sich am Wochenende nach der Besatzung des Parlaments der Krim in Simferopol durch russische Spezialeinheiten etwa 100 Menschen vor dem Einberufungsamt im Kyjiwer Stadtteil Swjatoschyn versammelten. Das habe ihn beeindruckt, obwohl er selbst wegen fehlender Erfahrung zunächst nicht in die Armee aufgenommen wurde. Erst nach der Schlacht um Ilowajsk im Spätsommer 2014 erhielt er einen Einberufungsbefehl und kämpfte etwa ein Jahr lang im Donbas-Krieg. Im Jahr 2022 gehörte er deshalb zur sogenannten ersten Welle der operativen Reserve, also zu jenen ehemaligen Soldaten, die de facto permanent einen undatierten Einberufungsbescheid in der Hand haben – und sich im Falle der Mobilmachung unverzüglich beim Einberufungsamt melden müssen.
Freiwillig an die Front
Als Leiter einer staatlichen Behörde war Drobowytsch allerdings von dieser Pflicht befreit. Nichtsdestotrotz packte er am Morgen des 24. Februar 2022 seinen Rucksack und fuhr zunächst zu seinem Institut, um dort geheime Dokumente und Server sicherzustellen. Dann schloss er sich der Kyjiwer Territorialverteidigung an, für die er unter anderem Verteidigungsstellungen am östlichen Ufer des Dnipro baute. Später wurde seine Einheit in die Regionen Cherson und Donezk geschickt, bevor Drobowytsch sich entschied, den Luftlandetruppen beizutreten.
Die Arbeit im Institut übernahm sein Stellvertreter, „doch in bestimmten Fragen war ich weiterhin beteiligt und schaltete mich gelegentlich von der Front aus dazu“, erinnert sich Drobowytsch. „Als ich in Kyjiw diente, war das einfacher. Aber als wir dann im Süden bei Robotyne oder im Osten bei Kreminna [stationiert] waren, wurde es viel schwieriger.“ Das Dorf Robotyne bei Saporischschja war während der ukrainischen Gegenoffensive im Sommer 2023 heftig umkämpft. Insgesamt 25 Monate diente Drobowytsch bei den Streitkräften, bevor er im April 2024 den Dienst quittierte. Grund waren die schwere Krankheit seines Vaters und sein eigener Gesundheitszustand.
Ein Philosoph mit liberalen Ansichten
Seit dem Frühjahr ist Drobowytsch also wieder vollständig als Leiter des Instituts für Nationale Erinnerung tätig. 2019 hatte er das Amt von Wolodymyr Wjatrowytsch übernommen, der heute für die Partei Europäische Solidarität von Ex-Präsident Petro Poroschenko im Parlament sitzt. Wjatrowytsch war ab 2014 als Institutsleiter maßgeblich für den Prozess der Entkommunisierung verantwortlich, der unter anderem dafür sorgte, dass es in der Ukraine heute kaum noch Ortsnamen mit sowjetischem Bezug gibt. Als Historiker ist Wolodymyr Wjatrowytsch allerdings umstritten: Hauptfeld seiner Forschung ist die Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN), die nach dem Ersten Weltkrieg entstanden ist, eine unabhängige Ukraine anstrebte und sowohl in der Ukraine als auch international kontrovers diskutiert wird. Mehrfach wurde Wjatrowytsch im In- und Ausland vorgeworfen, die Geschichte der OUN zu unkritisch zu betrachten.
Sein Nachfolger Anton Drobowytsch ist kein Historiker. Er hat an der Kyjiwer Drahomanow-Universität Philosophie studiert und war danach vor allem im kulturellen Bereich tätig, etwa als Leiter der Bildungsprogramme der Gedenkstätte in Babyn Jar oder als Strategiechef des berühmten Kultur- und Museumkomplexes Mystezkyj Arsenal in Kyjiw. Den Posten als Leiter des Instituts für Nationale Erinnerung trat er mit der Absicht an, die Arbeit des Hauses liberaler zu gestalten, ohne jedoch dessen grundsätzliche Ausrichtung zu verändern.
„Erinnerungspolitik ist genauso wichtig wie Sicherheit“
Das ist ihm gelungen – und das internationale Ansehen des Instituts ist während seiner Amtszeit gestiegen. Dazu haben nicht nur die stärkere Aufmerksamkeit für die Ukraine seit dem 24. Februar 2022 sowie der Respekt beigetragen, der dem Institutsleiter wegen seines Militärdienstes entgegengebracht wird. Vor allem schafft es Drobowytsch, etwa in Gesprächen mit polnischen Kollegen zu historischen Themen, eine klare proukrainische Haltung einzunehmen, ohne dabei die dunklen Seiten der Geschichte seines Landes schönzureden.
„Seit der Revolution der Würde [2013/2014] hat sich die Situation verändert“, erklärt der Institutsleiter: „Wir haben gesehen, dass [Russland] die Erinnerung als Waffe gegen uns einsetzt.“ Dem habe der ukrainische Staat aktiv versucht gegenzusteuern, habe vermehrt Gedenkstätten eingerichtet und unterstützt. Inzwischen nehme auch die Gesellschaft aktiv an diesen Prozessen teil. Seine Grundhaltung beschreibt Anton Drobowytsch folgendermaßen: „Ich bin ein Mensch mit sehr liberalen Ansichten. Bevor der Staat etwas tut, zum Beispiel etwas verbietet oder etwas abreißt, sollte er hundertmal mit der Gesellschaft reden und [sein Handeln] erklären.“ Seit dem russischen Großangriff im Februar 2022 sei er jedoch entschiedener geworden, was bestimmte Entscheidungen angeht, so Drobowytsch. Es habe sich einmal mehr gezeigt, dass „das nationale Gedächtnis und die Erinnerungspolitik nicht weniger wichtig sind als Wirtschaft oder Sicherheit“.
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