Stanislav Aseyev: Journalist, Gefangener, Soldat
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Fast zweieinhalb Jahre wurde der ukrainische Journalist und Schriftsteller Stanislav Aseyev in einem Foltergefängnis in Donezk gefangen gehalten. Dennoch meldete er sich nach dem russischen Großangriff im Februar 2022 freiwillig an die Front – auch auf die Gefahr hin, erneut in Gefangenschaft zu geraten. Heute berichtet der 35-Jährige im In- und Ausland über die verheerende Situation in den seit 2014 von Russland besetzten Gebieten.
Stanislav Aseyev ist im Oktober erst 35 Jahre alt geworden. Doch der Journalist und Schriftsteller aus Donezk hat bereits jetzt deutlich mehr durchgemacht und erlitten, als die meisten anderen Menschen in seinem Alter. Dabei hatte er, nachdem seine Heimatstadt 2014 von bewaffneten Kräften aus Russland besetzt worden war, zunächst einfach weiter seinen Job gemacht und als Journalist für ukrainische Medien wie Dserkalo Tyschnja („Wochenspiegel“) oder den ukrainischen Dienst des US-amerikanischen Senders Radio Free Europe/Radio Liberty berichtet.
Wegen kritischer Berichte als „Spion“ angeklagt
Dass dies schon damals lebensgefährlich war, musste Aseyev am eigenen Leib erfahren – obwohl er seine Artikel aus Sicherheitsgründen unter dem Pseudonym Stanislav Vasin veröffentlichte. Im Sommer 2017 verschwand er zunächst spurlos, später gaben die Behörden der selbst ernannten „Volksrepublik Donezk“ bekannt, Aseyev sei wegen angeblicher „Spionage“ festgenommen worden. Fast zweieinhalb Jahre lang wurde der Journalist im berühmt-berüchtigten Donezker Foltergefängnis Isoljazija gefangen gehalten.
Nichtsdestotrotz meldete er sich nach dem russischen Großangriff im Februar 2022 freiwillig zur Armee. Er kämpfte in der Infanterie, wurde zweimal verletzt und schließlich unter anderem aus medizinischen Gründen aus der Armee entlassen. Und das war nicht die erste Erfahrung Aseyevs mit dem Militär: Als junger Mann war er nach seinem Studium der Religionswissenschaft an der Technischen Universität in Donezk nach Frankreich gegangen, um sich dort der Fremdenlegion anzuschließen.
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Erschütternde Aufzeichnungen über den Alltag im Gefängnis
Zurück in der Ukraine arbeitete er unter anderem als Lkw-Fahrer und als Verkäufer in einem Elektronik-Markt, um Geld zu verdienen. Parallel dazu berichtete er seit 2012 als Journalist für ukrainische Medien. 2015 erschien sein autobiografischer Roman „Der Melchior-Elefant oder Der Mann, der dachte“, der unter anderem das Leben in den von Russland besetzten Gebieten beschrieb. Drei Jahre später, Aseyev saß damals in russischer Gefangenschaft, wurden seine zwischen 2015 und 2017 veröffentlichten Essays über die Zustände in Donezk unter dem Titel „In Isolation“ als Buch herausgegeben.
Am 19. Dezember 2019 kam Stanislav Aseyev bei einem Gefangenenaustausch frei. Wenige Wochen zuvor hatte ihn ein Gericht des russischen Besatzungsregimes in Donezk zu 15 Jahren Haft verurteilt. Zu einer ebenso langen Strafe wurde ironischerweise einige Jahre später der oberste Gefängniskommandant von Isoljazija verurteilt, den der ukrainische Inlandsgeheimdienst in Kyjiw festgenommen hatte.
2021 erschienen Aseyevs Aufzeichnungen aus der Zeit der Gefangenschaft gleich zweimal in deutscher Übersetzung und gaben umfangreichen Einblick in den unmenschlichen Alltag im Foltergefängnis Isoljazija. Die ehemalige Fabrik in Donezk war bis 2014 ein Ausstellungsort für die freie Kunstszene gewesen, danach übernahmen russischen Behörden das Gebäude und machten es zu einem rechtsfreien Raum, aus dem immer wieder Berichte über Folter, Sadismus und sexualisierte Gewalt nach außen drangen.
Diskussionen über den Begriff „Konzentrationslager“
„Isoljazija, dieses Konzentrationslager, die Folter mit Elektroschocks – all das war bereits ein Steinchen im großen Mosaiks des russischen Terrors, und nach Butscha, Isjum, Irpin, Mariupol und anderen Kriegsverbrechen, die die Russen begangen haben, erscheint es auch nicht mehr als etwas Einzigartiges oder ganz und gar Unglaubliches“, sagt Aseyev im Rückblick.
Bereits vor dem russischen Großangriff hatte der Journalist – als seine Gefängnisaufzeichnungen in deutscher Sprache erschienen – gemerkt, dass viele Menschen in Deutschland Probleme damit haben, wenn er den Begriff Konzentrationslager verwendet. Dieser aber sei „kein Monopol der deutschen Geschichte“, betont Aseyev – die ersten Konzentrationslager in Europa habe es vielmehr in der frühen Sowjetunion gegeben.
Und wenn er Isoljazija als ein solches bezeichne, denke er weniger and die Todeslager der Nationalsozialisten als an die Konzentrationslager der frühen 1930er Jahre, in die Deutsche geworfen wurden, die mit dem Nazi-Regime nicht einverstanden waren. Genau so würden im Isoljazija-Gefängnis Menschen zusammengepfercht, die mit dem totalitären de facto-Regime der selbst ernannten Republik vor Ort nicht einverstanden sind und die deshalb als gefährlich eingestuft werden.
Kriegsverbrecher zur Verantwortung ziehen
In der Gefangenschaft, erinnert sich Aseyev, habe man zwei Möglichkeiten: entweder sich als Held zu verhalten oder als Opfer. „Um zu überleben, muss man sich ausschließlich in die Psychologie des Opfers versetzen. Nach dem Motto: ‚Ich bin ein kleiner Mensch und ich weiß nichts.‘ Keinerlei Heldentum. Du musst alles unterschreiben, was sie von dir verlangen. Wenn sie wollen, dass Du ‚Ruhm für Russland‘ sagst, dann sag es. Denn deine wichtigste Aufgabe besteht darin zu überleben“, so Aseyev in einem ausführlichen Interview mit der Ukrajinska Prawda.
Zurück in Freiheit engagierte sich Aseyev neben seiner journalistischen Tätigkeit für die Rechte politischer Gefangener in den besetzten Gebieten und in Russland. Er reiste in europäische Länder, um auf deren Situation aufmerksam zu machen und von seinen eigenen Erfahrungen zu berichten. Nach dem russischen Großangriff im Februar 2022 arbeitete er zunächst für die Organisation Justice Initiative Fund. Sie versucht, russische Militärangehörige zu identifizieren, die an Kriegsverbrechen beteiligt waren, um sie strafrechtlich zur Verantwortung zu ziehen.
Später trat Aseyev als Soldat einer Brigade der sogenannten territorialen Verteidigung bei. Warum er sich freiwillig für die Infanterie entschied, die mit Abstand gefährlichste Aufgabe bei der Armee? „Ich bin ein aktiver Mensch, ich kann es nicht ertragen, in irgendeinem Hauptquartier zu sitzen und Papiere abzuheften“, erklärt er. Er habe das einige Tage lang gemacht und sei fast verrückt geworden. „Komischerweise fühle ich mich an vorderster Front mit einem Maschinengewehr wohler als im Stabsquartier mit einem Stück Papier“, so Aseyev. Seine größte Angst in dieser Zeit sei nicht gewesen, bei den Kämpfen getötet zu werden, sondern erneut in Gefangenschaft zu geraten und Folter und Erniedrigung erleben zu müssen.
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Als erster ukrainischer Journalist in Assads Militärgefängnis
Jetzt, nach dem er zweimal verletzt und aus der Armee entlassen wurde, reist Stanislav Aseyev wieder häufig ins Ausland, um stellvertretend für andere Gefangene und Soldaten seine Geschichte zu erzählen. Außerdem konnte er als erster ukrainischer Journalist nach dem Sturz des Assad-Regimes vor Ort über das syrische Folter-Gefängnis Saidnaja berichten. Der ukrainische Militärgeheimdienst HUR, der damals die Rückführung von Ukrainerinnen und Ukrainern aus Syrien organisierte, setzte wohl voraus, dass Aseyev die nötige Erfahrung besaß, um Isoljazija mit Saidnaja zu vergleichen.
„Saidnaja war ein wirklich riesiges Konzentrationslager, in dem Tausende Menschen gefangen gehalten wurden. Es war eine Fabrik des Todes und der Zerstörung. Dort wurden systematisch Menschen hingerichtet […], deren Überreste danach in Säure vernichtet wurden“, berichtet Aseyev. So etwas habe es in Isoljazija natürlich nicht gegeben. Dennoch findet der Journalist Ähnlichkeiten zwischen beiden Gefängnissen – und Aseyev weiß in diesem Fall leider sehr gut, wovon er spricht.
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