Die Bedro­hung aus dem Westen: Warum Ungarn in Sakar­pattja spioniert

Ungarn soll in der Ukraine spio­niert haben, um die Mög­lich­kei­ten für eine unga­ri­sche „Frie­dens­mis­sion“ zu son­die­ren. Warum in der Ukraine niemand auf eine solche Mission wartet und was dies mit den Beson­der­hei­ten der Region Sakar­pattja zu tun hat, erklärt unser Autor Joseph Place. 

Am 9. Mai 2025 gab der ukrai­ni­sche Sicher­heits­dienst (SBU) eine beun­ru­hi­gende Ent­de­ckung bekannt: Ungarn habe eine Geheim­dienst­ope­ra­tion in der west­ukrai­ni­schen Region Sakar­pattja (Trans­kar­pa­tien) durch­ge­führt. 

Der SBU erklärte, Ungarn habe zwei Ein­hei­mi­sche aus Sakar­pattja, genauer aus dem Bezirk Berehowe, ange­heu­ert, um mili­tä­ri­sche Ein­rich­tun­gen wie Luft­ab­wehr­stel­lun­gen aus­zu­spio­nie­ren, lokale Sicher­heits­vor­keh­run­gen aus­zu­kund­schaf­ten und die Haltung der lokalen Bevöl­ke­rung im Falle eines Ein­grei­fens unga­ri­scher „Frie­dens­trup­pen“ zu beur­tei­len. 

Infolge hat Ungarn Diplo­ma­ten aus­ge­wie­sen und behaup­tet, sie seien Spione, wor­auf­hin die Ukraine mit einer ent­spre­chen­den Gegen­maß­nahme reagierte. 

Buda­pest hat bereits zuvor immer wieder die Situa­tion der unga­risch­spra­chi­gen Bewoh­ner der Region Sakar­pattja kom­men­tiert und behaup­tet, Kyjiw würde sie unter­drü­cken. In der Ukraine gab es immer wieder Befürch­tun­gen oder Vor­würfe, Ungarn wolle das Gebiet oder Teile davon annek­tie­ren, was jedoch eher als poli­ti­sches Tak­tie­ren, denn als reale Bedro­hung zu werten ist. 

Die auf­ge­deckte Ope­ra­tion ist nun doch ein deut­li­ches Zeichen, dass es irgendwo in den unga­ri­schen Geheim­dienst- und Poli­tik­krei­sen Über­le­gun­gen zu Vor­stö­ßen in die Region gibt. Die Ope­ra­tion ist jedoch gefähr­lich und basiert auf fal­schen Annah­men. 

Um zu ver­ste­hen, warum Ungarn diese Region aus­spio­niert, muss man die Sprach­po­li­tik und die Geschichte der Region Sakar­pattja kennen. 

Kar­pa­ten­ukraine: Geschichte und Demografie

Sakar­pattja, der ukrai­ni­sche Name für die Provinz west­lich der Kar­pa­ten, liegt im Süd­wes­ten der Ukraine und ist die einzige ukrai­ni­sche Region, die an vier Länder grenzt: Polen, die Slo­wa­kei, Ungarn und Rumä­nien. Es ist eine der sprach­lich und kul­tu­rell viel­fäl­tigs­ten Regio­nen der Ukraine. Ukrainer:innen/Ruthen:innen, Ungar:innen, Pol:innen, Slowak:innen, Jüd:innen, Rom:nja und andere Gruppen wie Huzul:innen oder Lemk:innen leben seit Jahr­hun­der­ten in dieser Region.  

Sakar­pattja gehörte bis zum Ende des Ersten Welt­krie­ges zu Öster­reich-Ungarn, dann – zwi­schen den beiden Welt­krie­gen – zur neu geschaf­fe­nen Tsche­cho­slo­wa­kei, gefolgt von einer kurz­le­bi­gen Karpato-Ukraine unter ukrai­ni­scher Führung im Jahr 1939, und zu Ungarn während des Zweiten Welt­kriegs 1939–1945. 

Danach schlug die UdSSR das Gebiet zur Ukrai­ni­schen Sowjet­re­pu­blik. Dies führte zu demo­gra­fi­schen Ver­än­de­run­gen, da viele Russen und rus­sisch­spra­chige Men­schen in die Region umsie­del­ten. Nach dem Zusam­men­bruch der Sowjet­union blieb das Gebiet trotz einiger Vor­schläge für ein Refe­ren­dum unter den 1991 rati­fi­zier­ten Grenzen ukrai­ni­sches Ter­ri­to­rium. 

Jüngs­ten Umfra­gen zufolge sind 13 % der Bevöl­ke­rung von Sakar­pattja Ungarn oder spre­chen Unga­risch. Die unga­risch­spra­chige Bevöl­ke­rung kon­zen­triert sich ins­be­son­dere auf bestimmte Bezirke wie Berehowe, Mukat­schewo und einige weitere grenz­nahe Städte. 

Ungarn hat den unga­risch­spra­chi­gen Ein­woh­nern der Region Pässe aus­ge­stellt, doch viele von ihnen besit­zen daneben auch die ukrai­ni­sche Staats­bür­ger­schaft. In vielen Ort­schaf­ten werden Ukrai­nisch, Unga­risch, Rus­sisch, Rumä­nisch, Pol­nisch und Slo­wa­kisch gespro­chen. 

Sprach­ge­setze der Ukraine

Die Ukraine hat eine wech­sel­hafte Sprach­po­li­tik ver­folgt. 1989 wurde Ukrai­nisch zur Staats­spra­che erklärt. Die Ver­fas­sung von 1996 legt fest, dass Ukrai­nisch die Staats­spra­che ist, jedoch Rus­sisch und andere Min­der­hei­ten­spra­chen wei­ter­hin geschützt werden. 

Die Regie­rung des ehe­ma­li­gen Prä­si­den­ten Wiktor Juscht­schenko führte Mitte der 2000er Jahre mehr Vor­schrif­ten zur För­de­rung der ukrai­ni­schen Sprache in Filmen, im öffent­li­chen Dienst und in anderen Berei­chen ein. 

Im Jahr 2012 unter­nahm die Regie­rung des 2014 gestürz­ten Prä­si­den­ten Wiktor Janu­ko­witsch Bemü­hun­gen, Rus­sisch und die Min­der­hei­ten­spra­chen der Ukraine als Amts­spra­chen zuzu­las­sen, doch ohne Erfolg. 

Nach dem Euro­mai­dan war die Regie­rung bestrebt, die ukrai­ni­sche Sprache zu fördern, um sich von der „rus­si­schen Welt“ zu lösen. 

Im Jahr 2019 führte die Regie­rung des ehe­ma­li­gen Prä­si­den­ten Petro Poro­schenko eine umstrit­tene Neu­fas­sung des Geset­zes ein, die Unter­neh­men bestraft, die keine Dienst­leis­tun­gen in ukrai­ni­scher Sprache anbie­ten. Außer­dem schrieb das Gesetz die strikte Ein­hal­tung der Sekun­dar­schul­bil­dung in ukrai­ni­scher Sprache vor. Die Medien erhiel­ten weitere Vor­schrif­ten zur För­de­rung von ukrai­nisch­spra­chi­gen Inhalten.

Die Rea­li­tät in Sakarpattja

In der Region Sakar­pattja waren die Ukrai­nisch­kennt­nisse der unga­risch­spra­chi­gen Bevöl­ke­rung gering. Eine der Begrün­dun­gen für das Ein­füh­ren dieser stren­ge­ren Maß­nah­men war, dass sie sich besser inte­grie­ren sollten. Ungarn, Rumä­nien, die Slo­wa­kei und einige Spre­cher von Min­der­hei­ten­spra­chen sahen in dem Gesetz eine unfaire und repres­sive Maß­nahme.  

Wichtig zu wissen ist, dass einige wei­ter­füh­rende Schulen in Sakar­pattja einen zwei­spra­chi­gen Ansatz ver­fol­gen. Das ist auch unter dem neu ein­ge­führ­ten Gesetz wei­ter­hin möglich. In Berehowe sieht man auch Schil­der in unga­ri­scher und ukrai­ni­scher Sprache. Das Gesetz wurde 2024 geän­dert, um die Rechte von Min­der­hei­ten besser zu respek­tie­ren, die Folge einer Initia­tive, die von unga­risch­spra­chi­gen Ukrai­nern ange­führt worden war. 

Die Sprach- und damit auch Iden­ti­täts­po­li­tik der Ukraine ist regel­mä­ßig Thema rus­si­scher Pro­pa­ganda, oft mit einem Echo in Ungarn, wo die Span­nun­gen über­trie­ben und bewusst zu einer Pola­ri­sie­rung der Gesell­schaft benutzt werden.  

Die Zusam­men­hänge zwi­schen Sprache und Iden­ti­tät in der Ukraine sind komplex: Weil jemand eine bestimmte Sprache spricht, bedeu­tet das nicht unbe­dingt, dass diese Person sich der gleich­na­mi­gen Gruppe zuge­hö­rig fühlt. So haben viele rus­sisch­spra­chige Ukrainer:innen für die Ukraine gekämpft, zahl­rei­che unter ihnen sind gestor­ben: Es sind Men­schen, die zwar rus­sisch­spra­chig sind, sich aber weder poli­tisch noch eth­nisch als Russen sehen. Ähn­li­ches gilt für unga­risch­spra­chige Ukrainer:innen. 

 

Foto: Joseph Place

 

Seit der rus­si­schen Voll­in­va­sion haben einige, die sich viel­leicht eher als Ungarn denn als Ukrai­ner gefühlt haben, ihre Meinung geän­dert. Es gibt auch unter Spre­chern von Min­der­hei­ten­spra­chen offe­nere Formen ukrai­ni­scher Iden­ti­tät und Patrio­tis­mus, und viele fühlen sich zwi­schen meh­re­ren Iden­ti­tä­ten hin- und her­ge­ris­sen. 

Poli­ti­sche Posi­tio­nie­rung von Minderheiten

Viele Bewohner:innen der Region Sakar­pattja haben im Krieg gekämpft, wurden gefan­gen genom­men, sind gestor­ben und haben die Aus­wir­kun­gen des Krieges mit­er­lebt durch die Ankunft von Bin­nen­flücht­lin­gen oder weil Men­schen aus ihrem Umfeld im Krieg gestor­ben sind. Diese Erfah­run­gen prägen ebenso wie die Tat­sa­che, dass der unga­ri­sche Minis­ter­prä­si­dent Viktor Orban sich wie­der­holt, her­ab­las­send, ja demü­ti­gend gegen­über der Ukraine äußerte. Damit hat Orban viele Sym­pa­thien unter den in der Ukraine leben­den Ungarn ver­spielt. 

Manche unga­risch­spra­chige Ein­woh­ner haben die Region nach der Voll­in­va­sion ver­las­sen. Außer­dem stellen die Ungarn zwar in bestimm­ten Gebie­ten eine bedeu­tende Min­der­heit dar, aber sind nir­gends in der Mehr­heit und sind als Gruppe in ihrer Iden­ti­tät und poli­ti­schen Hal­tun­gen nicht homogen. 

Wie steht es um die von Orban geäu­ßerte his­to­ri­sche Ansprü­che auf die Region? Diese haben mit den heu­ti­gen Rea­li­tä­ten wenig zu tun. Die Grenzen der Ukraine sind inter­na­tio­nal aner­kannt und Ukrai­ner leben in Sakar­pattja seit vielen Jahr­hun­der­ten mit anderen Gruppen zusam­men. Trotz Span­nun­gen um die Sprach­ge­setz­ge­bung gibt es in Sakar­pattja kaum Bestre­bun­gen, die Grenzen neu zu ziehen.  

Ebenso sind die von­sei­ten Ungarns geäu­ßer­ten Unter­drü­ckungs­vor­würfe nicht stich­hal­tig: Die unga­risch­spra­chi­gen Men­schen sind frei, das Unga­ri­sche im Alltag zu ver­wen­den. Das ist in Städten wie Berehowe deut­lich sicht- und hörbar.  

Wenn Orban glaubt, dass die Bevöl­ke­rung der Region Sakar­pattja sich Ungarn anschlie­ßen will, so ist er nicht weniger ver­blen­det als Putin, der glaubte, die rus­sisch­spra­chi­gen Ukrainer:innen würden sich bei einer Inva­sion mas­sen­haft auf seine Seite schla­gen.  

 

Dieser Artikel erschien zuerst in der Kyiv Post. Wie­der­ver­öf­fent­li­chung mit Geneh­mi­gung des Autors.

Joseph Place

Joseph Place ist Poli­tik­wis­sen­schaft­ler, Autor und Herausgeber.

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