Das Medusenmuseum: Eine Erinnerung an den Maidan

Im Winter 2013/14 kam es zu monatelangen Protesten auf dem Unabhänigkeitsplatz in der ukrainischen Hauptstadt, dem Maidan Nesaleschnosti. Die damalige Regierung unter Präsident Viktor Janukowytsch entschied sich überraschend das Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Union nicht zu unterzeichnen. Dieser Entscheidung folgten Ereignisse, die später als Revolution der Würde bekannt wurden.
Doch wie ist dieser Ort heute? Wie wird dieser wahrgenommen? Mit der lebendigen Erfahrung des Winters vor sieben Jahren kehrt die Autorin Kateryna Mishchenko zurück zu der dystopischen Erinnerungslandschaft an der Säule auf dem Maidan.
Schon seit ein paar Jahren vermeide ich es möglichst, über den Maidan zu gehen. Das liegt nicht nur an der Trauer, die ich immer noch spüre, sondern auch daran, dass für diese Trauer, wie auch für die Erfahrungen des Winters 2014 insgesamt, dort nicht mehr viel Platz ist. Das merkwürdige Alltagsleben mit seinen als Tieren verkleideten Animateuren, dem Kinderlachen im Wasserstaub der Springbrunnen, den Elektrorollern, den Treffen von Freunden und der Werbung für Exkursionen nach Meschyhirja ist zurückgekehrt. Hier kann man sich mit müden Vögeln fotografieren lassen – einem Adler oder einer Eule. Die Eule blickt sich um, als wunderte sie sich darüber, wie junge Frauen vor wirklich jedem Hintergrund sexy Selfies machen, selbst vor den Blumen und Fotos der Toten entlang des Bürgersteigs der Instytutska-Straße. Dabei bin ich mir nicht sicher, ob dieser Alltag nicht einfach nur eine leichte Puderschicht ist, unter der man die Wunde nicht bemerken soll.
Vor kurzem habe ich dem Maidan dann doch einmal einen Besuch abgestattet, zuerst seiner Unterwelt – dem Einkaufszentrum Globus, das während der Proteste erstarrt war aber selbst die schlimmsten Zeiten überstanden hat und dann renoviert wurde, wobei eine unheilvolle, hartnäckige Stummheit in der Luft liegt. Man verlässt es mit einem noch unangenehmeren Gefühl als andere Shoppingmalls. Vom Globus kann man direkt auf den Platz an der Säule gelangen. Auch hier herrscht eine Art Stummheit, nein, kein Schweigen und keine Stille, hier macht sich das erzwungene Nichtsprechen der Stadt bemerkbar. Es ist merkwürdig, wie dieses Stückchen Fläche auf dem belebten Maidan in seiner eigenen Tonart existiert. Das Pflaster hier ist alt und hat Risse, teilweise fehlt es auch ganz, eine seltene, noch sichtbare Spur der damaligen Ereignisse. Der Ort selbst erinnert ein bisschen an ein verlassenes Amphitheater – die hohen, in Halbkreisen angeordneten Stufen sind alkoholgetränkt. Hier sitzen oft Teenager-Cliquen, aber so fröhlich sie auch sein mögen, laut wird es nie.
Das Territorium der Vergnügungen scheint hier zurückzutreten. Die Säule ist immer noch Versammlungsort für verschiedene politische Aktionen, und um sie herum gibt es eine Open-Air-Ausstellung des noch nicht gebauten Museums der Revolution der Würde – große Informationstafeln über verschiedene Aspekte der Proteste von 2013–2014. Eine Art Zeitfleck auf dem Majdan: Ringsum sitzen die Menschen auf dem Rasen und ruhen sich im Heute aus, während sich hier in der Stille die Zukunft und die Vergangenheit zu einem Nervenknoten verflochten haben, der regelmäßig Unruhe hervorruft.
Fata Morgana
An einem Samstag im September versammelte sich an der Säule eine Gruppe ukrainischer und belarusischer Aktivistinnen und Aktivisten, von denen einige gerade erst aus Belarus gekommen waren. Man spürte die Leidenschaft und Hoffnung in ihren Reden. Die Aktion an diesem Tag galt der Solidarität mit den Frauen und der besonderen Rolle, die sie bei den Protesten spielen. Vom Maidan bewegte sich die Demonstration zur belarussischen Botschaft. Ich bemerkte die Warteschlange vor Zara auf dem Chreschtschatyk, es schienen ungefähr genauso viele Menschen zu sein wie die Demonstrierenden. Passierende grüßten den Demonstrationszug, Autos hupten. Die Menschen in Kyjiw verstehen sehr gut, worum es in Belarus geht und wie hoch der Einsatz für die Demonstrierenden dort ist. Kyjiw sehnt sich nach „Normalität“ und man unterstützt die Intentionen der Belarussinnen und Belarussen.
Die aktuellen Ereignisse in unserem Nachbarland bringen die schon verblassten Gefühle des Winters 2014 wieder in Erinnerung, zwingen uns die Frage auf, was genau wir hätten anders machen sollen. Auf einmal gibt es einen Filter, durch den man neue Facetten der eigenen Nostalgie entdeckt. Die Abwesenheit der Ultrarechten, die explizite Gewaltlosigkeit der Menschen, die feministische Ikonographie des belarusischen Sommers imponieren mir sehr. Sein Strahlen hat das Bild des Maidan beleuchtet – die winterliche Siedlung in der Dämmerung, die kurzen Tage und die langen, unruhigen Nächte. Ein Gefühl von Fatalität bei allem, was da gerade passiert, wenn man sich vor der zynischen Gewalt der Regierenden nirgendwo verstecken kann, bringt sich in Erinnerung. Und die ungeklärten Fragen, von denen ich längst nicht mehr weiß, ob ich sie an die Vergangenheit oder die Zukunft adressieren soll: Was bedeutet es, unter den Bedingungen eines solchen Regimes Widerstand zu leisten? Was bedeutet es, um jeden Preis zu verhindern, dass man als Provokateurin einer ausländischen militärischen Einmischung abgestempelt wird, obwohl man einfach nur seine grundlegenden Rechte verteidigt? Wenn man derart zusammengeschlagen wird, dass einem Bilder aus dem Zweiten Weltkrieg in den Sinn kommen, was bleibt dann von einem übrig? Geht man dann noch einmal auf die Straße? Wie lässt sich die Agoraphobie heilen, wenn es einen Rechtsstaat weder gibt noch gegeben hat?
Revolutionäre Augenblicke inszenieren sich in unterschiedlicher Form. Interessant ist, wie sie ihre wechselseitige Interpretation stimulieren, wie sie in einen Dialog treten. Der Maidan scheint eine gelernte Lektion zu sein. Da war angeblich viel Geopolitik im Spiel und Gewalt vonseiten der Protestierenden, eine antirussische Einstellung, die Russlands militärische Einmischung provoziert hat. Manchmal ist es aus der Ferne schwierig, die gewaltfreien Absichten zu beurteilen, die Hunderttausende auf die Straße geführt haben. Aber selbst von Nahem betrachtet: Der Maidan ist aktuell zur Geisel eines offiziellen „nationalistischen“ Diskurses mit dem Titel „Revolution der Würde“ geworden. Die Gewalt der Regierungsstrukturen und die völlige Verletzbarkeit der Menschen sind in den diskursiven Schatten getreten. Deshalb erkennen vor allem diejenigen, die den Maidan miterlebt haben, und nicht diejenigen, die im Nachhinein sein Bild erschaffen, die Verzweiflung und das Risiko der Belarusinnen und Belarusen.
Neben einem unblutigen Erfolg der Proteste in Belarus ist meine Hoffnung auch, dass sie uns in der Ukraine und den Nachbarländern eine neue Ästhetik des Protests aufzeigen – Streiks, Dezentralisierung, eine Akzentuierung von Rechten und nicht von nationaler Identität. In dieser Ästhetik gibt es keinen Platz mehr für überkommene Diskurse eines Abschieds vom Sowjetimperium. Stattdessen wird sie von einer aufgeklärten sozialen Empfindsamkeit, von Solidarität in den Berufsverbänden, einer Sensibilität gegenüber den emanzipatorischen Strömungen der letzten Jahrzehnte und dem Wunsch nach demokratischer Interaktion bestimmt.
Kann sich jedoch eine neue Qualität zivilen Ungehorsams vor dem Hintergrund einer Hegemonie paramilitärischer Gruppierungen, die der Kriegsgeist hervorgebracht hat, und einer in Mode gekommenen „rechten Ästhetik“ herausbilden? Die Ereignisse in Belarus lassen mich hoffen. Ihre Beweglichkeit und Vitalität benetzen trockenen Grund und schaffen Oasen eines neuen Miteinanders. Niemand kann ihr Weiterleben garantieren und in dieser Zeit wird das Kostbare ihres Lebens noch offensichtlicher.
Medusen
Von dieser lebendigen Erfahrung kehre ich zurück zu der dystopischen Erinnerungslandschaft an der Säule auf dem Maidan. Die Informationstafeln bringen die Ereignisse, Protagonisten und Episoden des Majdan in einen Zusammenhang mit Analogien aus der Befreiungsgeschichte der Ukraine. Zahlreiche Parallelen werden zu den ukrainischen Sitscher Schützen gezogen – einer nationalen militärischen Einheit, die als Teil der Streitkräfte Österreich-Ungarns gegen das Russische Reich kämpfte. Das noch nicht gebaute Museum der „Revolution der Würde“ erzählt so auf interessante Weise die Geschichte der Sitscher Schützen und legt seinen konzeptuellen Ansatz offen. Aber was erfährt man hier eigentlich über den Maidan? Dass seine Rolle in der Etablierung eines anachronistischen Mythos über den Befreiungskampf bestand? Dass die Teilnehmenden des Maidan, insbesondere die „Himmlische Hundertschaft“, in erster Linie romantische Figuren von Freiheitskämpfern waren?
Bezeichnend ist an dieser Stelle die Beschlagnahmung des Areals, auf dem das Museum gebaut werden soll, durch die Generalstaatsanwaltschaft, weil unbedingt Ermittlungsexperimente zu den Erschießungen auf der Instytutska durchgeführt werden sollten. Während das Museum physisch noch nicht existiert, haben wir Gelegenheit, sein Fundament zu betrachten. Langjährige und qualvolle Untersuchungen symbolisieren den Wunsch von Hinterbliebenen der auf dem Maidan Umgekommenen und von Menschenrechtlerinnen, die Instytutska in ihrer derzeitigen Gestalt zu bewahren. Denn nur noch dort gibt es reale Spuren der Ereignisse und Gedenkpunkte, um die sich die Menschen immer noch kümmern.
Während die Instytutska als umstrittenes Territorium weiterlebt, wurde ganz an ihrem Ende, an der Kreuzung zum Chreschtschatyk, ein privates Medusenmuseum eröffnet. Sein blaues Aushängeschild ist der größte Blickfang, wenn man die Instytutska hochläuft. Einmal war ich mit meinem kleinen Sohn da. In wenigen Ausstellungsräumen stehen dort unterschiedlich beleuchtete Aquarien, in denen die verschiedensten Medusenarten herumschwimmen. Dort lässt sich auch beobachten, wie sich diese wunderbaren Geschöpfe von Neugeborenen zu Erwachsenen entwickeln. Ein kurzer Spaziergang. Als wir schon fast wieder draußen waren, drückte mein Sohn seine Stirn an eine Scheibe, fing an zu weinen und weinte draußen weiter, unten an der Instytutska.
Die Figur der Medusa hat eine reiche Geschichte. Ihr abgehacktes Haupt wurde nicht nur auf Kampfschilden angebracht, um den Feind abzuschrecken, sondern auch auf Grabplatten, um die Gräber vor Plünderungen zu schützen. Somit hat das Kyjiwer urbane Unbewusste seine eigene Version des Gedenkens an die Erfahrung des Maidan gefunden. Auf der Brandstätte der Revolution ist erst einmal das Museum entstanden, das wir verdient haben.
Aus dem Ukrainischen von Lydia Nagel.
Dieser Text ist im Sammelband „Ukraine verstehen. Auf den Spuren von Terror und Gewalt“ im November 2020 erschienen, welcher durch das Lysiak-Rudnytsky Ukrainian Studies Programme des Ukrainian Institute gefördert wurde.
Verwandte Themen
Newsletter bestellen
Tragen Sie sich in unseren Newsletter ein und bleiben Sie auf dem Laufenden.
