New Donbass Sym­phony – Songs from the Frontline

Foto: Den Gumenniy

Proben vor der ersten Live­auf­füh­rung des Albums, Myko­lay­iwka, Dez. 2021

Der ukrai­ni­sche DJ und Pro­du­zent Yuriy Gurzhy spricht über sein Projekt „New Donbass Sym­phony”, eine Musik­pro­duk­tion mit ukrai­ni­schen Teen­agern aus der Ost­ukraine. Ein Inter­view von Yeli­za­veta Landenberger

Yeli­z­a­veta Lan­den­ber­ger: Yuriy, Ende 2020 hast Du das Album „Nova Sym­fo­nia Donbasu” zusam­men mit Kindern aus ver­schie­de­nen Städten und Dörfern im Donbas auf­ge­nom­men. Wie kam es dazu?

Yuriy Gurzhy: Es gibt seit meh­re­ren Jahren das Projekt „Misto To Go” unter der Leitung von Georg Genoux, einem Theater- und Film­re­gis­seur aus Lüne­burg – mit immer wech­seln­den Teams aus Kindern, aber mehr oder weniger der glei­chen Crew. Er hat 2017 einen Film namens „School Number Three” gedreht, der auf der Ber­li­nale den Grand Prix Gene­ra­tion 14plus gewon­nen hat. Ich war im Publi­kum und ein Jahr später traf ich Georg bei einer Ver­an­stal­tung in der ukrai­ni­schen Bot­schaft in Berlin und sagte: „Ich bin Fan, ich liebe deinen Film.” Und er sagte: „Ich kenne dich von Rot­front, ich höre deine Musik seit Jahren.“

Für 2020 lud er mich ein, mit in den Donbas zu kommen und mit Teen­agern an den dor­ti­gen Schulen Musik zu machen. Es war nicht genau klar, wie alles ablau­fen würde, aber ich wollte unbe­dingt mit­ma­chen. Wir waren an fünf ver­schie­de­nen Orten. Wegen der Pan­de­mie gab es leider keine Mög­lich­keit, Thea­ter­auf­füh­run­gen oder Live-Kon­zerte zu geben, also beschlos­sen wir, statt­des­sen ein Album auf­zu­neh­men. Wir haben 12 Songs zusam­men mit den Kids geschrie­ben, die alle zwi­schen 13 und 16 Jahre alt waren. Nur zwei Jungs waren dabei, der Rest waren Mädchen. Ein Teil unseres Teams hat während des Pro­jekts einige Kurz­filme gedreht, die meist auf Inter­views mit den Kindern basieren.

Wie nah sind die Orte, die Du besucht hast und an denen die Kinder dau­er­haft leben, an der (ehe­ma­li­gen) Front­li­nie? Wie sieht das All­tags­le­ben dort aus?

Einige dieser Orte, wie zum Bei­spiel Troitske, liegen sehr nahe an der Front­li­nie. Myko­la­jiwka war der Ort, der am wei­tes­ten ent­fernt war. Aber ich habe dort nur vier Wochen im Jahr 2020 ver­bracht und eine weitere Woche im Jahr 2021, als wir für ein Konzert geprobt haben. Also würde ich nicht behaup­ten, dass ich genau weiß, wie es sich anfühlt, dort zu leben. Ich erin­nere mich, dass ich einmal von einer Explo­sion auf­ge­wacht bin. Im Donbas sind solche Dinge zur Routine gewor­den. Wenn man zum Bei­spiel während einer Taxi­fahrt eine Explo­sion hört, dreht der Fahrer auto­ma­tisch die Musik ein wenig lauter. Dieser Krieg dauert schon seit 2014 an. Die Kinder haben also die Hälfte ihres Lebens mit dem Krieg verbracht.

Foto: Yuriy Gurzhy

Eine Zeich­nung im Foyer des Lyzeums Nr. 1, Popasna, Nov. 2020.

Hattest Du in letzter Zeit Kontakt zu den Kindern? Weißt Du, ob sie noch dort sind?

Die meisten von ihnen sind im Donbas geblie­ben, einige sind nach Myko­la­jiwka gegan­gen, weil es dort siche­rer zu sein scheint. Aber das ist natür­lich relativ. Einer der beiden Jungs, die an dem Musik­pro­jekt teil­ge­nom­men haben, brachte seine Gitarre mit. Die Kinder hatten dort ein spon­ta­nes Wie­der­se­hen und erzähl­ten mir, dass sie die Lieder von unserem Album gespielt haben. Sie haben mit­ge­sun­gen und geweint. Ich weiß nicht, was ich fühlen soll. Ich bin glück­lich, dass sie unsere Lieder singen, aber die Umstände machen mich sehr traurig. Im Moment haben manche von ihnen keinen Strom, kein Wasser und kein Inter­net, sodass ich mit einigen Kindern keinen Kontakt hatte. Die­je­ni­gen, von denen ich gehört habe, sagen mir: „Uns geht es gut, wir sind in Sicher­heit“. Wir haben eine Chat­gruppe mit einer Hand­voll Teil­neh­mer. Jedes Mal, wenn ich sie frage, wie es ihnen geht, sagt einer von ihnen: „Gut, gut, es war in letzter Zeit ziem­lich ruhig“, was bedeu­ten könnte, dass es in den letzten 15 Minuten ruhig war.

Einer der Orte, an denen Du warst, heißt Rajho­ro­dok, auf Eng­lisch „Para­dise Town”. Der Song „Para­dise City” ist diesem Ort gewidmet.

Mit den Schulen in den anderen Gemein­den gab es schon vorher Koope­ra­tio­nen, daher war es ein­fa­cher. In Rajho­ro­dok mussten wir aller­dings bei Null anfan­gen, und das war der einzige Ort, an dem wir das Gefühl hatten, dass wir nicht so gut mit den Kindern in Kontakt kamen. Aber da war dieses Mädchen, Mascha, die ursprüng­lich aus Donezk stammt. Sie muss 15 gewesen sein, als wir uns trafen. Und sie ist dort ein ziem­li­cher Fremd­kör­per. Sie ist gut in der Schule, vor allem in Eng­lisch und Infor­ma­tik, aber sie steht auch auf wirk­lich selt­same Heavy-Metal-Sub­gen­res, zum Bei­spiel das, was wir früher Death Metal nannten. Sie ist in eine größere Stadt gefah­ren, um sich eine E‑Gitarre zu kaufen, und sie hat Gitar­re­spie­len gelernt, indem sie sich Youtube-Videos ange­schaut hat.

Ihr Gesangs­stil ist wie das, was man in meinen jün­ge­ren Jahren als „Grow­ling” bezeich­net hat, aber sie würde es wahr­schein­lich anders nennen. Es hört sich an, als würde jemand kotzen. Und als wir diesen Song über Rajho­ro­dok machen wollten, war das ziem­lich schwie­rig, weil wir außer Mascha keine anderen Kinder zum Mit­ma­chen über­re­den konnten. Deshalb ist das der einzige Track, bei dem ich den Lead­ge­sang über­nehme. Und Mascha singt diese Zeile im Refrain und schreit: „Welcome to Para­dise City“. Das klingt ziem­lich brutal und irgend­wie lustig, denn dieses 15-jährige Mädchen hört sich an wie ein Monster, aber auf eine völlig kon­trol­lierte Art.

Wie lief der krea­tive Prozess ab? Wie seid ihr auf die Songs gekommen?

Ich war mir nicht sicher, wie ich die Sache angehen sollte. Ich hatte das Gefühl, dass es sowohl eine Her­aus­for­de­rung als auch ein Aben­teuer sein würde. Am Ende war es das auch wirk­lich. Ich begann damit, den Kindern einige Lieder zu zeigen, die über andere Städte und Orte geschrie­ben wurden, Lieder, die jeder kennt, wie „Straight outta Compton” oder „New York, New York”. Dann habe ich sie gefragt, ob es auch Lieder über die Orte gibt, aus denen sie kommen und das war nicht der Fall. Also schlug ich vor, dass wir solche Lieder schrei­ben sollten. Einige von ihnen waren Lieder über die Orte selbst, aber die meisten handeln von ihrem Leben dort.

In „Fut­bo­listka” zum Bei­spiel geht es um eine Frau­en­fuß­ball­mann­schaft in Komy­schawa – oder besser gesagt um einen Jungen, der in eine Fuß­ball­spie­le­rin ver­knallt ist. Inter­es­san­ter­weise wollten die Mädchen manch­mal Texte aus der männ­li­chen Per­spek­tive schrei­ben. „Miss Popasna” ist ein wei­te­res Lie­bes­lied, das von einem der beiden teil­neh­men­den Jungen gesun­gen wurde. Für ihn war es selbst­ver­ständ­lich, eben­falls ein Lie­bes­lied zu schrei­ben. Keiner der Schüler:innen hatte vorher Erfah­rung im Song­wri­ting – das war span­nend, da ich kaum Erfah­rung mit dieser Art von Song­wri­ting-Work­shops hatte.

Foto: Ana­sta­sia Tarkhanova

Vor dem Lyze­ums­ein­gang mit der (fast) voll­stän­di­gen „Gang“, Popasna, Novem­ber 2020.

Es war also Teamwork?

Wir saßen einfach da und unter­hiel­ten uns. Plötz­lich hatte jemand eine Idee und dann haben wir an dieser Idee gear­bei­tet. Irgend­wann hatte ich alle Kinder im Raum und es fühlte sich nicht wirk­lich so an, als würde es in eine pro­duk­tive Rich­tung gehen. Also fragte ich: „Okay, welche Pro­bleme habt ihr?” Denn Pro­bleme sind immer gut für Song­wri­ting. Es war zu 100 Prozent eine Team­leis­tung, und ich hätte mir das niemals vor­stel­len können, bevor ich dorthin kam. Ich meine, das ist die ideale Hip-Hop-Crew-Situa­tion, in der jeder zwei oder drei Zeilen bei­steu­ert. Sie haben sich die Arbeit geteilt. Es war erstaun­lich, denn ich hatte wirk­lich das Gefühl, dass ich dort mit pro­fes­sio­nel­len Rappern zusam­men war. Mit diesen Kids habe ich einige meiner schöns­ten Erfah­run­gen als Pro­du­zent und Song­wri­ter gemacht.

Es ist echt beein­dru­ckend, wie ein­gän­gig die Songs sind. Und die Texte sind eine inter­es­sante Mischung aus Ironie, Ver­spielt­heit der Teen­ager­jahre und, ange­sichts der Umstände, einer aus­ge­spro­che­nen Reife mit in einem sehr ernsten Unterton.

Alles ist in Team­work ent­stan­den – bis auf den Song „Para­dise City”, für den die Lyrics von Grigory Semen­chuk geschrie­ben wurden. Er ist ein ziem­lich bekann­ter ukrai­ni­scher Dichter der jün­ge­ren Gene­ra­tion und auch ein fan­tas­ti­scher Rapper. Sein Musik­pro­jekt „Brat” ist meiner Meinung nach der beste ukrai­ni­sche Hip-Hop aller Zeiten. Ich habe ihn gebeten, uns bei den Texten zu helfen. Er war noch nie in Rajhor­dok, also hat er sich eine Stadt­rund­fahrt auf Youtube ange­se­hen. Der Text ist perfekt gewor­den, es ist wirk­lich ein Lied über die Geo­gra­fie von Rajhorodok.

Das letzte Lied auf dem Album, „Doroga Belaya”, habe ich kom­plett selbst geschrie­ben. Die Taxi­fah­rer im Donbas sind große Fans von rus­si­schem Chanson. Es ist furcht­bar. Jedes Mal, wenn ich Taxi fuhr, war es, als würden meine Ohren von diesem Scheiß ver­ge­wal­tigt. Dann dachte ich: Viel­leicht würden sie etwas hören, was mehr oder weniger dieser Tra­di­tion folgt, aber mit ganz anderen Texten. So etwas wie ent­rus­si­fi­zier­ten rus­si­schen Chanson. Also habe ich diese Idee aus­pro­biert und ein Lied über Romeo und Julia aus dem Donbas, die auf ver­schie­de­nen Seiten der Front­li­nie leben, geschrieben.

Du warst also haupt­säch­lich mit dem Taxi unterwegs?

Nicht nur. Von Popasna nach Troitske fuhren wir mit dem Schul­bus, das ist auch auf dem Album­co­ver zu sehen. Wir waren während der Pan­de­mie dort, aber die meisten Kinder trugen keine Masken. Die Heizung in dem Schul­bus war kaputt, es war eiskalt und die Straßen dort sind in einem schreck­li­chen Zustand. Der Grund, warum wir den Bus genom­men haben, war, dass uns gesagt wurde: Die Wahr­schein­lich­keit, dass auf den Schul­bus geschos­sen wird, ist gerin­ger. Also dachte ich: Okay, wir nehmen lieber diesen Schul­bus, auch wenn er so voll und kalt ist. Wir standen um sieben Uhr auf, stiegen in den Bus und fuhren eine Stunde lang durch die weiße Wüste.

Foto: Yuriy Gurzhy

Der Schul­bus in der früh­win­ter­li­chen Land­schaft der Ost­ukraine, Novem­ber 2020.

Es klingt so, als habe jeder ein­zelne Song eine eigene Geschichte. Hast Du einen per­sön­li­chen Favoriten?

Nein, ich glaube nicht. An den meisten Songs waren ver­schie­dene Kinder betei­ligt, sodass es für jeden Song eine andere Kon­stel­la­tion und eine neue Beset­zung gibt – sie bedeu­ten alle etwas anderes für mich. Hinter jedem Song steckt eine Geschichte und das ist für mich das Besondere.

Die Pre­miere des Albums musste auf­grund der Pan­de­mie online statt­fin­den, über einen Live­stream, der vom PANDA Theater Berlin zur Ver­fü­gung gestellt wurde. Kannst Du beschrei­ben, wie das war?

Die Kinder haben die Pre­miere online ange­schaut. Später, im Dezem­ber 2021, gab es dann die erste und bisher einzige Live-Show. Ich war leider nicht dabei, aber ich kam vor dem Auf­tritt für eine Woche zurück in den Donbas, um zu proben. Es hat Spaß gemacht, die Kinder zu sehen, die plötz­lich ein Jahr älter waren. Einige von ihnen haben sich wirk­lich ver­än­dert. Ich glaube, sie haben ein Jahr lang mit den Liedern gelebt und ihre Wahr­neh­mung hat sich gewan­delt. Kirill aus Myko­la­jiwka hat einen neuen Teil für einen der Songs geschrie­ben. Es hat wirk­lich Spaß gemacht, zu sehen, wie diese Lieder in gewis­ser Weise ihr eigenes Leben führen. Es kamen auch einige neue Kinder dazu und andere waren nicht mehr dabei. Aber alle Teilnehmer:innen waren immer noch sehr angetan von dem Material.

Hast Du noch Hoff­nung in dieser schreck­li­chen Kriegs­si­tua­tion, Yuriy?

Ich kann nicht ohne Hoff­nung leben. Ich hoffe einfach, dass die Kinder in Sicher­heit sind – das ist das Wich­tigste – und dass wir eines Tages alle wieder zusam­men­kom­men und unsere Lieder singen können. Ich glaube, sie würden jetzt eine ganz andere Bedeu­tung haben.

Hinweis: Das Inter­view wurde im Ori­gi­nal auf Eng­lisch geführt und wurde für die Ver­öf­fent­li­chung bei „Ukraine ver­ste­hen“ über­setzt und gekürzt. Das kom­plette Album kann man sich bei Sound­cloud anhören.

Textende

Portrait von Yelizaveta Landenberger

Yeli­za­veta Lan­den­ber­ger ist wis­sen­schaft­li­che Mit­ar­bei­te­rin an der Hum­boldt-Uni­ver­si­tät zu Berlin sowie freie Jour­na­lis­tin und Übersetzerin.

 

 

 

 

 

 

 

 

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