War die Ukraine eine sowjetische Kolonie?

Die Ukraine steckt mitten im Prozess der Entkolonialisierung und Nationenbildung. Vor diesem Hintergrund lässt sich Russlands Krieg gegen die Ukraine als postkolonialer Konflikt begreifen. Von Gerhard Simon
Die Ukraine ist (erst) seit 1991 ein unabhängiger Nationalstaat, ein Zerfallsprodukt der Sowjetunion wie alle 15 ehemaligen Unionsrepubliken, einschließlich Russlands. Andererseits: Die Ukraine hat eine mehr als 1000jährige Geschichte. Kyjiw war das Zentrum der ersten ostslawischen Staatsbildung, hier nahm die Christianisierung der Ostslawen ihren Anfang. Aber eine ununterbrochene staatliche Kontinuität gab es nicht. Versuche zu einer unabhängigen Staatsbildung scheiterten im 17. Jahrhundert und zu Beginn des 20. Jahrhunderts nach dem Ersten Weltkrieg.
Das Imperium als „Anti-Imperium“
Was war die Ukraine also im späten Zarenreich und in der Sowjetunion: ein loser Haufen von Provinzen, die zu verschiedenen Staaten gehörten? Eine Kolonie? Ein Teil der Metropole? Die Sowjetunion hat es in ihrer Selbstdarstellung geschafft, die Vorstellung weit von sich zu weisen, die UdSSR sei ein Imperium wie jedes andere. Mehr noch: Die Wahrnehmung der Sowjetunion als „Anti-Imperium” wurde auch im Westen weitgehend akzeptiert. Es gelang der sowjetischen Ideologie und Propaganda, das Sowjetsystem als Überwindung und Befreiung vom Kolonialismus zu vermarkten.
Im kommunistischen Narrativ konnte es also keine sowjetischen Kolonien geben. Heute – ein Vierteljahrhundert nach dem Ende der Sowjetunion – hat sich die Selbstwahrnehmung in den ehemaligen Unionsrepubliken in das Gegenteil verkehrt: Überall wird mit mehr oder weniger Nachdruck das koloniale Erbe aus russischer und sowjetischer Zeit beklagt und die Entkolonialisierung verlangt und praktiziert. Mit einer Ausnahme: Russland. Selbst in Belarus, der am stärksten sowjetisierten und russifizierten Republik, fordern oppositionelle Kräfte die Überwindung der kolonialen Vergangenheit. Drei der fünf Staaten Zentralasiens (Usbekistan, Turkmenistan, Kasachstan) verwerfen sogar die kyrillischen Buchstaben und übernehmen die lateinischen.
Sowjetischer Kolonialismus
Kein Zweifel, der sowjetische Kolonialismus hatte seine Besonderheiten und unterschied sich von britischen, französischen und anderen Kolonialimperien; das begünstigte die Mimikry. Hinzu kam: Die Bolschewiki hatten nach 1917 im Bürgerkrieg gesiegt, weil sie versprachen, das „zarische Völkergefängnis“ zu öffnen und die nichtrussischen Völker in die Freiheit und staatliche Selbständigkeit zu entlassen. Zwar hielten sie ihr Versprechen nicht, aber die Ukrainer und viele andere bekamen immerhin eine eigene Sowjetrepublik. Die ukrainische Sprache und Kultur wurden gefördert und das Russische zurückgedrängt. Die frühe sowjetische Nationalitätenpolitik unterschied sich massiv und positiv von der im späten Zarenreich, als sogar die Bezeichnung Ukraine verboten war. Stalin nahm jedoch in den 1930er Jahren viele Zugeständnisse zurück; kein ukrainischer Nationalkommunist überlebte das Jahr 1939.
Aber die Fassade des Sowjetföderalismus blieb bestehen, und sie war keineswegs bedeutungslos. Nur außerhalb der Sowjetunion, insbesondere in Deutschland, wurde es sowohl vor als auch nach 1945 üblich, in der Sowjetunion nur die Russen wahrzunehmen und die Ukrainer und die anderen – d.h. die Hälfte der Bevölkerung – zu vergessen; Sowjetrussland galt in Deutschland als inoffizielle Staatsbezeichnung.
Mit der Sowjetunion kehrte das Russländische Reich also in neuer Form auf die Landkarte zurück. Die Bolschewiki verschärften und verfeinerten die zentralen Elemente imperialer Herrschaft, deren Ziel die Unterwerfung der Kolonien war. Die Zentralisierung aller wichtigen und vieler unwichtiger Entscheidungen in Moskau blieb bis zum Ende der Sowjetunion Generallinie der Kommunistischen Partei, deren strikt hierarchischer Aufbau die Garantie für die Aufrechterhaltung imperialer Herrschaft bot. Zwar verfügten die Ukraine und die anderen Unionsrepubliken (nach sowjetischer Lesart) über eigene Staatlichkeit, aber eine Machtteilung mit Moskau oder ein Aushandeln von Kompetenzen zwischen Metropole und Kolonien kam nicht in Frage. Insofern war der Sowjetföderalismus das Gegenteil des Föderalismus im westlich-demokratischen Verständnis.
Wer aber war die Metropole im sowjetischen Imperium? Das russische Volk insgesamt war weder in zarischer noch in sowjetischer Zeit Herrscher oder Nutznießer des Imperiums. Inhaber der Macht waren die leitenden Apparate und Funktionäre der Kommunistischen Partei, der bewaffneten Kräfte, der Sicherheitsdienste, des Staatsapparates und der Wirtschaft (die sog. Nomenklatura). Zwar bildeten Russen eine überproportionale Mehrheit dieser Machtelite, aber es wurden auch zahlreiche Nichtrussen, darunter viele Ukrainer, kooptiert.
Die Ukraine als Kolonie
Nicht nur in der Politik, sondern auch in der Wirtschaft und Kultur verfügte die Ukraine über keine eigenständigen Entscheidungskompetenzen. Obgleich das Land seit 1945 Mitglied der Vereinten Nationen war, gab es keine von Moskau unabhängige Außenpolitik. Schon in den 1920er Jahren beklagten ukrainische Ökonomen auch öffentlich die koloniale Abhängigkeit von Moskau. Nur dort wurde über die Verteilung von Investitionen entschieden. Wie ein roter Faden zieht sich durch die gesamte sowjetische Zeit die ukrainische Behauptung, das Land zahle mehr in den Gesamthaushalt ein als es zurückerhalte. Die Ukraine sei also der Zahlmeister der Union. Die einzige Möglichkeit für Kyjiw, Einfluss auf wirtschaftspolitische Entscheidungen der Zentrale zu nehmen, bestand bis zuletzt in inoffizieller Lobbytätigkeit bzw. Korruption der Metropole. Davon wurde umfassend und nicht ohne Erfolg Gebrauch gemacht.
Während die Ukraine in der sowjetischen Frühzeit im Bereich der Kultur einen weiten Spielraum genoss, wurde die Bewegungsfreiheit gerade hier gegen Ende der Sowjetunion immer enger. Moskau entschied darüber, in welchen Hochschulen und Schulen Russisch oder Ukrainisch Unterrichtsprache war, oder wie viele Bücher auf Ukrainisch erscheinen durften.
Zu der von oben verordneten und durchgesetzten Kolonialisierung kam die Selbstkolonialisierung im vorauseilenden Gehorsam. Lange eingeübte Verhaltensmuster, die weit in zarische Zeit zurückreichen, die Erfahrungen mit dem Terror der Stalinzeit sowie die Angst vor einer ungewissen Zukunft haben die Ausbildung einer eigenständigen europäischen Identität in der Ukraine erschwert und Minderwertigkeitskomplexe gefördert. Es passt durchaus in dieses Bild, dass es andererseits radikal-nationalistische Gruppen gab und gibt, für die die Ukraine „über allem“ steht.
Entkolonialisierung
Parallel zur Kolonialisierung fanden schon in sowjetischer Zeit Prozesse der Dekolonisierung statt. Sie führten dazu, dass die ukrainische Nation am Ende der sowjetischen Periode bedeutend fester gefügt und handlungsfähiger war als nach dem Ersten Weltkrieg. Die sowjetische Nationalitätenpolitik hat somit entgegen ihrer Intention nicht zur „Verschmelzung“ der Nationen geführt, sondern zu ihrer Unabhängigkeit beigetragen.
Die Gegenläufigkeit der Entwicklungen in den letzten sowjetischen Jahrzehnten hat den Bruch am Ende der Perestrojka vorbereitet: Einerseits wuchs das Selbstbewusstsein der neuen ukrainischen Eliten gegenüber Moskau, die nicht mehr auf den „großen Bruder“ angewiesen waren, andererseits versuchte die Metropole mit kleinlicher Bevormundung in der Sprachen- und Kulturpolitik gegenzusteuern. Die Gleichzeitigkeit der ungleichzeitigen Prozesse von Nationsbildung und Kolonialisierung führte am Ende zu einer explosiven Mischung, die zum Zusammenbruch der Sowjetunion wesentlich beitrug.
Heute besteht in der ukrainischen Öffentlichkeit ein breiter Konsens darüber, dass die Dekolonisierung ein unumkehrbarer Prozess ist, der allerdings noch nicht abgeschlossen ist; Rückschläge gelten als denkbar. Das Land hat sich im vergangenen Vierteljahrhundert kulturell sowie in der Innen- und Außenpolitik weit von der Metropole entfernt, und ist auf dem Weg vom Objekt zum Subjekt der internationalen Politik ein großes Stück vorangekommen.
Russlands postkolonialer Krieg gegen die Ukraine
Eine Hauptbedrohung der Selbständigkeit besteht darin, dass Russland den Verlust des Imperiums nicht anerkennt und seit 2014 einen postkolonialen Krieg gegen die Ukraine führt mit dem Ziel, die Ukraine entweder in die hegemoniale Abhängigkeit zurückzuführen oder zu einem failed state zu machen; jedenfalls aber die Integration einer freien Ukraine in die europäische Staatengemeinschaft zu verhindern. Diese russischen Positionen haben auch in der Ukraine Anhänger, wenn auch – das zeigen die Wahlen der vergangenen Jahre und Umfragen – mit deutlich abnehmender Tendenz. Der Krieg im Donbas hat dazu beigetragen, dass die Anhänger einer Reintegration mit Russland als Alternative zu Europa inzwischen eine kleine Minderheit sind.
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